Hinz&Künztlerin Elena :
„Ich bin froh über das, was ich erreicht habe“

Elena hat mehrere Jahre in Hamburg auf der Straße gelebt. Inzwischen arbeitet sie als Reinigungskraft bei Hinz&Kunzt. Ihr nächstes großes Ziel: Lesen und Schreiben lernen – auch auf Deutsch. Foto: Dmitrij Leltschuk

Elena Pacuraru hat mehrere Jahre in Hamburg auf der Straße gelebt. Heute ist die Rumänin bei Hinz&Kunzt als Reinigungskraft angestellt. Ihr nächstes großes Ziel: Lesen und Schreiben lernen – auch auf Deutsch. Die Geschichte einer Frau, die nicht aufhört zu kämpfen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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„Mein Kopf …“, seufzt Elena Pacuraru und wischt sich mit der Hand über die Augen. „Ich alles immer vergessen!“ Müde schaut sie auf einen DIN-A4-Zettel. Darauf stehen deutsche Sätze, in denen immer das Verb fehlt. Das soll sie einsetzen. Erst mal muss sie also den Text lesen. „M – U – S – I – K“, buchstabiert die Hinz&Künztlerin – und schaut ratlos. Noch mal … „Ahhh! Musik!“

Elena lacht und freut sich. Sie wirkt dann wie ein junges Mädchen, dabei ist sie schon 49 Jahre alt. Seit April 2016 ist die Rumänin bei Hinz&Kunzt als Reinigungskraft fest angestellt. Und sie kann stolz auf sich sein. Denn Elena ist Analphabetin. Sie ist nie in ihrem Leben zur Schule gegangen. Nicht einen Tag.

Und sie spricht nur gebrochen Deutsch. Mit fast 50 Jahren lernt sie zum ersten Mal Buchstaben kennen, lernt, sie zu Worten zusammenzusetzen und die Worte zu ganzen Sätzen. Und das nicht mal in ihrer Muttersprache. Ein Kraftakt, der für Menschen mit normaler Schulbildung kaum vorstellbar ist.

Aber Elena ist stark. Sie kämpft. Ihr ganzes Leben schon. Elena stammt aus der Gemeinde Titesti im Kreis Arges, das ist etwa 140 Kilometer nordwestlich von der Hauptstadt Bukarest entfernt. Sie ist eines von fünf Kindern. Der Vater ist ständig betrunken, die Mutter schuftet in einem landwirtschaftlichen Kollektiv, um die Familie durchzubringen. „Wir hatten oft nicht mal etwas anzuziehen“, erzählt Elena. Deshalb hätten die Kinder auch nicht zur Schule gehen können. „Aber ich bin groß geworden“, sagt Elena und lacht. „Und ich habe geheiratet.“

Zu acht leben sie in einem LKW

Als Elena 16 ist, bekommt sie ihr erstes Kind. Obwohl … War sie 16? Elena ist sich nicht sicher, auch nicht darüber, wie alt ihr ältester Sohn ist. Zahlen sind fast so schwer zu behalten wie Buchstaben, wenn man nie etwas lernen durfte. Egal. Jedenfalls kommt von da an ein Kind nach dem anderen zur Welt. Sämtliche Verhütungsmethoden und Abtreibung waren für Frauen unter 40 Jahren unter Nicolae Ceaucescu verboten. Erst mit dem Sturz des Diktators 1989 wurde dessen Dekret abgeschafft. Trotzdem bekommt Elena zwei weitere Kinder.

 
„Ich hab immer Angst gehabt, dass uns jemand was antut.“ – Hinz&Künztlerin Elena

Sechs sind es insgesamt. Damals leben Elena und ihr Mann in einem Lastwagen. Den parken sie auf einem kleinen Grundstück, das sie kaufen konnten. Ihr Mann arbeitet ebenfalls in der Landwirtschaft, aber das Geld reicht nie. Jobs, die die Existenz sichern könnten, gibt es nur für Menschen mit zumindest einem Minimum an Schulbildung.

Doch zum Glück sind inzwischen die Grenzen geöffnet, und so beschließt das Paar, nach Österreich zu gehen. „Wir haben gebettelt und überall gefragt, ob wir vielleicht ein Treppenhaus saubermachen können“, erinnert sich Elena. So seien sie einigermaßen über die Runden gekommen.

20 Stunden pro Woche arbeitet Elena als Reinigungskraft bei Hinz&Kunzt. Der Job ist für die 49-Jährige wie ein Sechser im Lotto: Endlich konnte sie mit ihrem kranken Mann in eine eigene Wohnung ziehen. Foto: Dmitrij Leltschuk.

Vor allem konnten sie die Kinder zur Schule schicken, die bei Elenas Mutter in Rumänien geblieben waren. „Dafür danke ich Gott“, sagt sie. „Immer, wenn ich die Kinder gesehen habe, hab’ ich zu ihnen gesagt: ,Macht eure Aufgaben. Hier, lies mir das vor. Erkläre mir das hier.‘“ Die Kinder sollen es einmal besser haben. Dafür arbeitet Elena.

Sie und ihr Mann fangen sogar an, in Rumänien ein kleines Haus zu bauen. Zweieinhalb Zimmer, ganz bescheiden. „Aber es ist immer noch nicht fertig“, erzählt sie und zuckt resigniert mit den Schultern. Denn irgendwann gibt es auch in Österreich keine Arbeit mehr. Immer mehr Ungelernte aus den ehemaligen Ostblockstaaten konkurrieren um  niedrigschwellige Jobs.

Und so zieht das Paar 2010 weiter nach Deutschland. „Wir hatten gehört, dass es hier besser ist“, erinnert sie sich. „Wir haben immer gedacht, wir machen ein bisschen Geld und dann gehen wir wieder zurück.“ Schon allein der Kinder wegen. „Sie haben sich immer so gefreut, wenn ich komme. Dann konnte ich ihnen auch mal etwas kaufen“, erzählt Elena.

Dafür wurde der Abschied von Mal zu Mal schwerer. „Irgendwann habe ich es nicht mehr übers Herz gebracht, ihnen zu sagen, dass wir wieder fahren müssen. Ab da sind wir immer einfach verschwunden.“ In Hamburg angekommen, findet das Paar keine Bleibe. Elena und ihr Mann landen auf der Straße. Tagsüber gehen sie betteln, nachts liegen sie wach.

„Wir haben uns ruhige Ecken in Parks gesucht“, erzählt sie. „Ich hab’ immer Angst gehabt, dass jemand kommt und uns etwas antut.“ Dazu die ewige Sorge um die Kinder. „Ich hatte Panik, dass ihnen etwas passiert“ – obwohl die meisten da schon volljährig waren. Aber in dieser Zeit wurde Elenas jüngste Tochter entführt.

Elena verkaufte vor einem Aldi-Markt

Zwölf Jahre war sie damals alt. Eine Woche war das Mädchen verschwunden. Nachbarn hatten beobachtet, wie sie von einem Mann mitgenommen worden war. „Ich bin krank geworden vor Angst“, sagt Elena. Zum Glück konnte das Mädchen von der Polizei in Österreich aufgespürt und zurück nach Rumänien gebracht werden. Der Mann, vermutlich ein Menschenhändler, kam ins Gefängnis.

Mehrere Jahre leben Elena und ihr Mann auf der Straße. Das Geld, das das Paar verdient, schickt es zum größten Teil nach Rumänien zu Elenas Mutter. Schließlich kümmert die sich zunächst um die Kinder. In dieser Zeit beobachtet Elena immer wieder die Hinz&Kunzt-Verkäufer. Irgendwann fasst sie sich ein Herz und spricht einen polnischen Hinz&Künztler an.

So kommt Elena 2011 zu Hinz&Kunzt. „Da war Jens (Hinz&Kunzt Geschäftsführer, die Red.), und Gott muss mir geholfen haben in dem Moment, denn ich habe ihm auf Deutsch erklärt, warum ich so dringend einen Ausweis brauche.“ Elena lacht. „Ich konnte doch gar kein Deutsch!“ Immer noch ungläubig, als habe sie damals ein Wunder erlebt, schüttelt sie den Kopf. Und regelrecht stolz schiebt sie hinterher: „Ich bin die vierte Rumänin, die einen Hinz&Kunzt-Ausweis bekommen hat.“

 
„Ich war eine gute und zuverlässige Verkäuferin.“ – Hinz&Künztlerin Elena

Ein paar Jahre verkauft Elena das Straßenmagazin vor Aldi in Rahlstedt. „Ich war eine gute und zuverlässige Verkäuferin“, sagt Elena stolz. Wegen der ständigen Angst um die Kinder holt das Paar die drei jüngsten nach Hamburg. Zwei Töchter und ein Sohn, alle noch minderjährig, leben zunächst mit ihren Eltern gemeinsam auf der Straße. Anfang 2015 wird die Familie in Stade in einer Notunterkunft für Obdachlose aufgenommen.

Endlich eine eigene Wohnung

Doch damit will sich Elena nicht zufriedengeben. Regelmäßig steht sie bei der Hinz&Kunzt-Sozialarbeiterin Isabel Kohler auf der Matte und trägt ihre Bitte vor: „Wenn du von einer Arbeit hörst, sag mir Bescheid. Ich brauche eine richtige Arbeit!“ Als die 20-Stunden-Stelle einer Reinigungskraft bei Hinz&Kunzt frei wird, bekommt Elena den Zuschlag – und das Paar kann aus der Notunterkunft in eine eigene Wohnung in Stade ziehen.

Zwei Zimmer, Küche, Bad. Ein großer Schritt ist getan. Nun also noch richtig Deutsch lernen. Der Kurs wird vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bezahlt. Täglich außer freitags geht Elena am Nachmittag in die Sprachschule. Wenn sie doch nur nicht immer so müde wäre … Um fünf Uhr klingelt der Wecker, um sechs fährt sie mit dem Metronom nach Hamburg, um sieben putzt sie bei Hinz&Kunzt. Um zwölf Uhr macht Elena Hausaufgaben.

Rumänische Verkäufer

120 Rumänen sind offizielle Hinz&Kunzt-Verkäufer. Wir versuchen jeden, zum Besuch eines Deutschkurses zu motivieren. Dienstags findet in Kooperation mit Diakonie, Sprachbrücke-Hamburg und Hinz&Kunzt in der Tagesaufenthaltsstätte Bundesstraße ein Kurs statt. Eine Herausforderung: Viele waren nur kurz in der Schule oder sind
Analphabeten. Elena besucht eine Sprachschule. Derzeit nehmen wir keine rumänischen Verkäufer mehr auf, weil dafür unsere Ressourcen nicht ausreichen. 

Dabei helfen ihr manchmal andere Hinz&Künztler. Elena liest, probiert, wird freundlich korrigiert. „Ich vergesse alles!“, sagt sie frustriert. „Es ist so schwer.“ Dann schnell Mittag essen und ein bisschen schlafen. Dafür schiebt sie sich in einem Büro Stühle zusammen und legt sich darauf. „Nur zehn, 20 Minuten“, sagt Elena.

Nicht immer bleibt ihr die Zeit, um 14.30 Uhr beginnt der Unterricht. „Wenn ich nicht kurz schlafen konnte, sitze ich manchmal so in der Schule“, sagt sie, stützt ihren Kopf in die Hände und schließt die Augen. „Dann ruft Lehrer: ,Hey, Elena!‘ Und ich sage: ,Lehrer, lass mich doch bitte bisschen einschlafen …‘“ So kaputt ist sie. Denn wenn sie um 19.30 Uhr zurück in Stade ist, muss sie noch kochen und aufräumen. Und am nächsten

Morgen wieder früh hoch. Zwar verkauft inzwischen auch Elenas Mann Hinz&Kunzt. Doch er ist schwer an Diabetes erkrankt. Elena macht sich Sorgen – und muss doch stark sein, denn auf ihr lastet die Hauptverantwortung. Trotzdem ist Elena zufrieden. „Ich bin froh über das, was ich erreicht habe.“

Nur eines wünscht sie sich noch: Dass ihre Kinder, die inzwischen fast alle in Deutschland leben, mitsamt den Enkelkindern gut über die Runden kommen. Ach ja, und dass sie vielleicht ihr Haus in Rumänien fertig bauen können. Um dann eines Tages zurückzukehren in die Heimat.

Artikel aus der Ausgabe:

Happy Birthday!

Vor einem Vierteljahrhundert erschien die erste Hinz&Kunzt. Zum Jubiläum präsentieren wir eine besonders dicke Ausgabe mit vielen Rück- und Ausblicken. Und Geschichten, die Mut machen.

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Autor:in
Annette Woywode
Chefin vom Dienst für das gedruckte Magazin

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