Mit zwölf konnte Monika nicht verstehen, warum ein geliebter Mensch sterben muss. Sie wurde magersüchtig. Heute hat sie ihren Frieden mit dem Tod gemacht
(aus Hinz&Kunzt 156/Februar 2006)
Als Monika (Name geändert) zehn Jahre alt ist, erkrankt ihr Vater an Krebs. Zwei Jahre später stirbt er. Heute, nach sechs Jahren, blickt sie zurück und spricht über die härtesten Erlebnisse ihres Lebens.
Ich war neun oder zehn, als ich eines Morgens beim Waschen im Badezimmer die gelben Augen meines Vaters bemerkte. Es sah komisch aus, deshalb rief ich meine Mutter. Sie sah sich seine Augen an und fuhr mit ihm zum Arzt. Es stellte sich heraus, dass mein Vater Gelbsucht hatte. Meine Mutter erklärte mir, das käme vom Rauchen. Doch ich dachte nicht weiter darüber nach.
Irgendwann lag mein Vater im Krankenhaus. Es war angenehmer als andere. Es roch nicht so nach Desinfektionsmitteln, und seine Zimmer hatten hohe Wände und waren gelb gestrichen. „Ich komme bald wieder raus“, sagte mein Vater. Für mich war klar, dass seine Krankheit nicht so schlimm sein konnte. Er kam auch wieder nach Hause und arbeitete wie bisher. Sein Bauunternehmen forderte viel Zeit, er hatte 20 Mitarbeiter, die Lkw standen bei uns auf dem Hof. Nur meine Eltern stritten häufiger. Ich versuchte zu schlichten. Ich war ja noch klein, dachte, die Dinge wären einfacher, als sie es tatsächlich waren. Meine Eltern stritten weiter, wenn ich weg war.
Mein Vater trank auch viel Bier zu der Zeit. Für mich war das normal. Abends, wenn wir zusammen die Tagesschau sahen, trank er sein Bier wie ich meinen Tee.
Doch die Streitereien nahmen zu, und ich fragte mich, was los sei. Meine Eltern unternahmen nicht viel miteinander, mein Vater arbeitete, und ich war mit meiner Mutter zusammen, die mich nachmittags zum Ballett oder Klavierunterricht fuhr.
Schließlich wurde mein Vater wieder ins Krankenhaus eingeliefert. Meine Mutter und ich saßen im Auto, und sie erklärte mir zum ersten Mal, dass mein Vater Krebs habe. Ich war zehn, und sie sagte: „Da ist etwas in deinem Papa drin, das frisst seine Organe auf. Deshalb muss es mit Gegenmitteln weggemacht werden. Wir wissen noch nicht, ob es gut oder böse ist.“
Ich habe das hingenommen, war ganz ruhig. Ich glaube, ich habe noch nicht mal geweint. Nur dass Papa so lange weg war, hat mich wütend gemacht. Ich hab mich gefragt, wie so eine Krankheit kommt, und meine Mutter erklärte mir, die Krankheit komme vom Rauchen und vom Bier, ich solle so etwas nie machen.
Ich kam in die 5. Klasse, auf eine neue Schule. Wie lange mein Vater noch gut aussah, weiß ich nicht, doch es war einfach nicht gerecht, dass er nicht bei uns war.
Irgendwann habe ich aufgehört zu essen. Meine Magersucht war plötzlich da, ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich es geschafft habe, einfach nichts zu essen. Für meine Mutter kam ein weiteres Problem hinzu. Sie war verzweifelt: Ihr Mann lag im Krankenhaus, und von meinen älteren Geschwistern, die schon ausgezogen waren, bekam sie auch keine Unterstützung. Irgendwann drohte sie mir, wenn ich nicht essen würde, riefe sie die Polizei. Mein Bruder kam und setzte sich beim Essen so lange neben mich, bis ich den Teller leer gegessen hatte.
Es war zu der Zeit, als mein Vater sogar wieder nach Hause kam. Einerseits gab uns das Hoffnung, doch andererseits musste er mit ansehen, wie ich immer magerer wurde.
Wie es auf einmal passierte, weiß ich nicht, doch mein Vater war plötzlich ganz dünn. Er wurde bettlägerig, und es kam täglich eine Frau vom ambulanten Pflegedienst zu uns. Ich hab sie jedes Mal in Empfang genommen, und sie hat mir erklärt, wie man die Infusionen wechselt und mir geholfen, diese Zeit durchzustehen. Ich hatte nicht mehr so viel Angst. Außerdem kam ich mir wichtig vor, denn ich konnte meinen Vater pflegen. Doch er wurde noch dünner, war nicht mehr beim Abendessen dabei und puzzelte auch nicht mehr mit mir wie zuvor. Ich war sozusagen nicht mehr mit ihm zusammen, sondern nur noch für ihn da. Er lag unten im Wohnzimmer, am Fenster. Und ich habe manchmal einfach ferngesehen. Jetzt denke ich darüber nach und bereue es so sehr, nicht mit ihm geredet zu haben.
Dann kam Weihnachten. Es war das letzte, das wir mit ihm verbrachten. Er musste sich aufraffen, um mit uns zu feiern. Es hat ihn unglaublich viel Kraft gekostet. Ich war seine kleine Prinzessin, doch ich war trotzdem wütend. Es war so anders als davor. Er sah aus wie ein Skelett und hat versucht zu lächeln. Dass er vielleicht schon wusste, dass es sein letztes Weihnachten sein würde, kam mir nicht in den Sinn.
Und dann kam der 1. März. Mein Onkel aus Polen war bei uns. An dem Tag wollte ich, wie immer, zur Schule gehen und stand an der Bushaltestelle. Es hat geregnet, und ich hatte keinen Regenschirm. Auf einmal kam mein Onkel und meinte: „Ich möchte nicht, dass du zur Schule fährst. Wir fahren jetzt ins Krankenhaus.“
Mein Vater lag schon in einem Einzelzimmer, überall waren Geräte aufgebaut. Meine Mutter war Tag und Nacht bei ihm. Er konnte nicht mehr reden, ich bekam keine Antworten mehr, also sagte ich: „Papa, wenn du mich hörst, dann drück meine Hand.“ Sein Drücken war ganz leicht, kaum zu spüren, wie ein Schmetterling, der in deiner Hand gefangen ist und mit den Flügeln flattert, so kraftlos. Ich sagte ihm das erste Mal ganz bewusst: „Ich liebe dich.“ In dem Moment drückte er meine Hand so stark, er konnte ja einfach nichts mehr sagen. Ich hab es nicht gehört, doch dass er mir sagen wollte, ich liebe dich auch, das weiß ich.
Am Nachmittag war ich bei meinem Patenonkel. Meine Tante bekam einen Anruf, nahm mich fest in den Arm und sagte: „Deinem Vater geht es jetzt besser, er ist in der Nähe von Gott.“
Auch mein Onkel kam, umarmte mich. Ich fing an zu weinen. Ich lag so lange in seinen Armen, habe nichts gesagt. Alles was ich tat, war weinen.
Wir fuhren zurück ins Krankenhaus, und es standen lauter Menschen vor seinem Zimmer. Schon das machte mich so wütend, denn sie waren vor mir da, und das war nicht richtig. Sie standen um sein Bett herum, ich drängte mich durch die Leute und lief auf ihn zu, legte mich auf das Bett und schrie. Ich weinte die ganze Zeit. Ich nahm seine Hand, weil ich wollte, dass er sie noch mal drückt, doch es kam einfach nichts mehr. Keine einzige Regung.
Für seine Beerdigung hatte ich ein Gedicht geschrieben. Hatte es auf goldenes Papier geklebt. Der Schluss war: „Na dann, auf Wiedersehen…“ Die Kirche war eine einzige schwarze Masse, eine Rabenschar. Ich warf das Gedicht in sein Grab.
In den zwei Jahren danach ging ich zu einer Psychologin. Anfangs zweimal wöchentlich, dann einmal. Es war eine richtige Therapie, bei der ich mich mit dem Tod meines Vaters auseinander setzte und die gleichzeitig auch meine Magersucht behandelte. Die Psychologin wurde eigentlich wie eine Freundin für mich. Ich redete mit ihr über Schulstress und Freundinnen, sie wurde mit der Zeit mein wichtigster Ansprechpartner. Gleichzeitig ging auch meine Mutter zu ihr. Sie arrangierte Gespräche zwischen mir und meiner Mutter. So konnte sie die Streitereien, die bei uns zu Hause seit dem Tod meines Vaters immer häufiger wurden, versuchen zu beheben. Diese Psychologin ist im Nachhinein ein unglaublich wichtiger Teil in meinem Leben. Sie hat mir in dieser harten Zeit viel geholfen.
Zum Friedhof gehe ich nicht sehr oft. Wenn ich da bin, rede ich mit meinem Vater und erzähle ihm die Dinge, die so passieren in meinem Leben. Dabei weiß ich, dass er das alles miterlebt. Denn dass mein Vater immer bei mir ist, weiß ich – mein Vater ist ein Engel, das ist sowieso klar. Er ist mein Engel.
Ich habe mal von ihm geträumt. Vielleicht ist geträumt falsch. Vielmehr habe ich geschlafen, und er hat mit mir geredet. Er hat mir gesagt: „Monika, ich bin wirklich immer bei dir und beschütze dich dein Leben lang. Ich habe Gott darum gebeten, dein Engel sein zu dürfen.“