Warum es nicht so einfach ist, den eigenen Kindern beim Fußball zuzusehen – Beobachtungen bei der Eimsbüttler F-Jugend
(aus Hinz&Kunzt 148/Juli 2005)
„Über links, da ist doch alles frei!“ – „Los, dranbleiben!“ – „Da muss man doch abspielen! Was ist denn mit euch los, Jungs?“
Es ist Samstag, die Sonne scheint, und Ralf schreit sich am Rande eines staubigen Aschenplatzes heiser. Soweit normal für einen Fußballfan. Bloß hier spielt nicht der HSV oder wenigstens St. Pauli, son-dern die erste Mannschaft der F-Jugend des Eimsbüttler ETV. Acht, neun Jahre alt sind die Jungs, die hier über den Platz rennen, und die Zuschauer am Rand sind ihre Eltern, in der Mehrzahl Väter. „Das ist ja das Problem“, seufzt Ralf und zündet sich, weil Halbzeitpause ist, erst mal eine Zigarette an. „Als Vater darf man eigentlich nichts sagen, da hat man’s noch schwerer als der Trainer, auf den hören sie ja manchmal.“
Ralf, Anfang 40, ist der Vater von Simon, dem kleinsten, aber wendigsten und meist auch besten Spieler auf dem Platz. Nein, keinesfalls sei es so, dass der Sohn seiner fußballerischen Nachhilfe bedürfe, gibt Ralf sofort zu. Aber er kann nicht anders: Bis er 14 war, hat er selbst im Verein gekickt, viel später dann ehrenamtlich Kinder trainiert – und Fußballfan ist er sein Leben lang gewesen. „Wenn man da einen schlechten Spielzug sieht, muss man was sagen, das bezieht sich gar nicht nur auf den eigenen Sohn, da ist man einfach Fan.“ Aber eben gleichzeitig Vater, deshalb wuschelt er Simon noch mal durchs Haar, bevor die zweite Halbzeit beginnt, nimmt die Trinkflasche zurück in seine Obhut und gesellt sich an der Seitenlinie zu den anderen Vätern und Müttern. Man scherzt, plaudert, manche zeigen eine leicht distanzierte „Ich-könnte-jetzt-auch-schön-was-anderes-machen-Haltung“. Bis zum Anpfiff der zweiten Halbzeit, dann wird es wieder ernst.
„Gut Phillip, aber abgeben! Mit zurücklaufen! Sehr gut Nicki, den hast du!“ Wie ein Tiger im Käfig läuft Thomas an der Seitenlinie entlang und redet halblaut mehr mit sich selbst als mit den Spielern. „Früher hab ich so rumgeschrien, dass es der Familie irgendwann peinlich war“, sagt er grinsend. Die Familie besteht aus seiner Frau Maria und vier Söhnen. Zwei von ihnen spielen im Verein Fußball, der jüngste will demnächst damit anfangen, der vierte kickt nur so zum Spaß – und die Mutter steht beinahe jedes Wochenende auf einem anderen Platz und feuert an: „Los, Phillip, den machst Du rein!“ Thomas, der Vater, kommt dagegen nur noch selten zum Zugucken, „weil ich diese Anspannung kaum aushalte“. 20 Jahre hat er selbst gespielt, noch viel länger ist er HSV-Fan, und selbst vor dem Fernseher könne er es manchmal nicht ansehen, wenn ein Spiel schlecht laufe. „Ich kann nicht so gut mit Misserfolgen umgehen“, gibt er selbstkritisch zu. Na-türlich habe sein Ältester Recht, wenn er zu ihm sage: „Papa, halt dich da raus, ich kann es dir ja sowieso nicht recht machen.“ Doch solche Selbsterkenntnis nützt wenig, hat ebenso wie Thomas auch Ralf festgestellt: „Früher fand ich es doof, wenn mein Vater am Spielfeldrand rumgebrüllt hat, und jetzt macht man es genauso.“
Das klingt nicht nur wie ein Naturgesetz, sondern wird von den kicken-den Söhnen auch so hingenommen – sagen sie jedenfalls: „Ich hör da einfach nicht hin und mach, was ich will“, behauptet einer selbstbewusst. Ein anderer berichtet von einem folgenreichen Missverständnis: „‚Stopp!‘ hat mein Vater gebrüllt, da bin ich stehen geblieben, weil ich dachte, ich bin abseits, aber er hatte gemeint, dass ich den Ball stoppen soll!“ Na, an dem Nachmittag habe er aber mit seinem Vater ge-schimpft, der natürlich sofort eingesehen habe, dass solche Spieler-verwirrung niemandem nützt. Oder wie es der kleine Stürmer Simon knapp formuliert: „Manchmal nervt das ganz schön, wenn die immer alles besser wissen.“
Leicht zerknirscht räumt Ralf, sein Vater, ein, dass es nach einem verlorenen Spiel manchmal unnötig Streit gebe – und strengt sich beim nächsten Match umso mehr an, nur aufmunternde Dinge zu rufen: „Super, den hast du! Ihr seid toll!“ Das nämlich hören alle Jungs gerne. So wünschen sich Fußballer ihre Fans – ganz besonders, wenn es gegen einen Angstgegner geht, wie an diesem Wochen-ende den HSV-Nachwuchs.
Auswärtsspiel in Norderstedt, die Jungs sind kleinlaut und beinahe sicher, dass sie sowie-so verlieren. „So darf man da nicht rangehen“, sagen einstimmig die versammelten Eltern. Und auch Phillips Vater Thomas, der sicherheitshalber zu Hause geblieben ist, weil er sich bei einem so wichtigen Spiel bestimmt wieder aufregen würde, beteuert später, es gehe ihm nicht darum, dass sein Sohn immer gewinnen muss. „Aber anstrengen sollen sie sich und so gut spielen, wie sie können!“ Mit Niederlagen fertig werden, ohne sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben, an Aufgaben wachsen, Teamgeist entwickeln – all das könne man beim Fußball spielerisch lernen, und deshalb findet Thomas es gut, dass seine Jungs Fußball spielen – trotz aller Nerven, die es ihn kostet.
Für Phillip und seine Mannschaft beginnt die erste Halbzeit gegen den HSV überraschend gut. Das Publikum verhält sich vorbildlich: „Weiter so, Jungs, toller Pass. Super gehalten, Caspar. Schönes Tor, Simon!“ Großzügig loben sie nicht nur das eigene Kind, sondern auch die anderen, und freuen sich, wie die eben noch eingeschüchterten Spieler mutiger werden. Doch dann fangen sich die Eimsbüttler kurz nacheinander zwei unglückliche Tore ein. Verunsicherung auf dem Spielfeld, Aufjaulen bei den Zuschauern: „Jungs, was ist denn mit euch los, passt doch auf! Das muss man doch sehen!“ Halblaut kritisieren Väter nicht nur das eigene Kind, sondern auch andere. Ganz schwierig, meint Thomas, „wenn man das als Vater hört und auch noch weiß, der andere hat Recht.“ Da müsse man schon mal tief durchatmen.
Auf dem Rasen bemühen sich die Jungs, den Zwischenrufen ihres Trai-ners zu folgen und neue Spielzüge aufzubauen. Dann wird auch noch Simon übel gefoult, und keiner pfeift es! Empörung am Spielfeldrand: „Hallo Schiedsrichter!“, brüllt Ralf und unterdrückt mühsam Schlimmeres.
Endlich Halbzeitpause. Einige Jungs schleppen sich mit gesenktem Kopf vom Platz, andere schreien ihre Wut heraus, viele haben feuchte Augen. Spätestens jetzt gibt es kein Halten mehr: Väter umarmen ihre Söhne, Mütter trocknen Tränen. Plötzlich sind alle Spieler nur noch Kinder, und selbst die fanatischsten Fußballfans nichts als Väter – jedenfalls bis zum nächsten Anpfiff.