Mehr als zehn Jahre hat Andreas Karmers an seinem Film gearbeitet, der von der Geschichte des Gängeviertels erzählt – und von viel mehr.
Ist das Möwengekreisch nicht zu laut, zu plakativ? Die Zuschau er:innen sehen doch, dass es aus der Enge des Gängeviertels hinüber in den weitläufigen Hamburger Hafen geht, wenn auf der Leinwand vor ihnen plötzlich ein Segelschiff mit Rahen und Masten hoch aufragt. Ton ingenieur Enrico Wachtel nickt und dämpft das unterlegte Möwengeschrei. Er schiebt Regler hin und her, schaut auf die farbigen Linien, in die sich die Töne und Geräusche verwandelt haben, in seinem Studio in einem ehemaligen Gewerbehof. Ihm zur Seite sitzt Andreas Karmers, der abwechselnd auf die Leinwand und die davor aufgestellten großen Monitore blickt. Was wohl Walter Wedstedt zu dieser Szenerie gesagt hätte?
Andreas Karmers hat ihn nie persönlich kennengelernt: den Walter, seinen Großvater mütterlicherseits; Anfang des 20. Jahrhunderts im Hamburger Gängeviertel geboren und dort vaterlos aufgewachsen. Er hat sich von seinen Angehörigen erzählen lassen, was diese über den Großvater und das Leben im Gängeviertel aus eigener Erfahrung wie aus Erzähltem noch wussten: „Meine ganze Sippe kommt ja von da her.“
Walters Mutter, also Karmers Urgroßmutter, betrieb in der Neustädter Straße einen Zeitungsladen. Das reichte nicht als Einkommen, deshalb musste sie die Küche der ohnehin engen Dachwohnung nachts an sogenannte Schlafburschen vermieten: an Tagelöhner, die froh waren, wenn sie mal ein paar Pfennige übrig hatten, um nicht auf der Straße übernachten zu müssen. Von diesem Leben lässt Karmers seinen Großvater in seinem wuchtigen Film mit dem Titel „Wir waren das dunkle Herz der Stadt“ erzählen: wie es war in beengten Wohnungen ohne fließendes Wasser und ohne Kanalisation; wie die Polizei sich nie einzeln in die verwinkelten Gänge traute und auch, wie immer wieder die Tuberkulose zuschlug. Wie die ersten Gebäude abgerissen wurden und wie auch Walter Wedstedt am Ende das Gängeviertel verließ und zur See fuhr. Es ist eine filmische Reise, die 100 Jahre umspannt: von 1880 bis 1980.
Karmers hat dafür zusätzlich immer wieder im Hamburger Staatsarchiv geforscht, hat Literatur zum Thema gelesen: Bücher, historische Zeitungsartikel und damalige amtliche Verlautbarungen, dazu Baupläne und Bauzeichnungen studiert. Er hat in Archiven nach Fotos gesucht, auf Flohmärkten und bei privaten Sammlern. Jahr um Jahr. Denn als er sich vor gut zehn Jahren an diesen Stoff machte, merkte er bald, dass der mehr hergibt als die üblichen 90 Fernsehminuten. Auch dass er mehr bieten kann als die leichtgängige Erzählung: Nach der Cholera von 1892 habe die Stadt gegen die unhaltbaren hygienischen Zustände im Gängeviertel vorgehen müssen und dank des Abrisses eine moderne Innenstadt geschaffen.
Er fragt stattdessen nach den Interessen dahinter – und erinnert an den zuvor erfolgten Abriss des Wohnquartiers auf dem Großen Grasbrook, damit dort die Speicherstadt erbaut werden konnte. Deshalb mussten deren gut 24.000 Bewohner:innen im schon über füllten Gängeviertel unterkommen. Er fragt, wer sich damals durchsetzte und wer nicht. „Es gab die Idee, dass man im Gängeviertel zwar Gebäude abreißt, aber an derselben Stelle kleine Wohnungen baut, doch de facto ist das wenig passiert“, sagt er. Nur in der NeustadtSüd entstanden neue Wohnungen, wenn auch nicht er schwinglich für die ehemaligen GängeviertelBewohner:innen. Das heutige Portugiesenviertel ist ein Überbleibsel davon. Sonst erwuchs nach und nach die uns heute vertraute Hamburger Innenstadt mit ihren Bürokontoren und Einkaufsstraßen rund um das Rat haus, der Börse und dem Hauptbahnhof, wo bald die wohlhabende Kaufmannschaft flanierte, während die ehemaligen Bewohner:innen schauen mussten, wo sie blieben. „Mein Film ist keine Heimatmelodie“, sagt Karmers.
Flankierend kommen auch Ingenieure und Stadtplaner zu Wort, die etwa ausführlich aus der „Deutsche Bauzeitung“ von 1920 vorlesen und von der Ästhetik der neuen Stadt schwärmen, die das Alte beherzt hinter sich lasse: „Das ist fast für ein Fachpublikum, weil ich die Texte nicht kürze, aber da müssen die Zuschauer durch“, sagt Karmers lässig.
Erzählt wird aber auch die politische Geschichte des Viertels und die seines Protagonisten. Denn sein Großvater Walter ist als Jugendlicher und dann auch als junger Mann lange auf Seiten der Kommunist:innen unterwegs, durchaus handfest, um die politischen Gegner zu verprügeln – und wechselt dann zu Hitlers SA. Vielleicht gibt es so etwas wie eine grundsätzliche Aufruhrbereitschaft, „dass man sich nur in der Opposition wohlfühlt“, überlegt er. Es müsse mit dem Wunsch, einer Gruppe anzugehören, zu tun haben; dass man jemanden brauche, bei dem man sich links und rechts unterhaken könne. Karmers sagt: „Ich selbst stelle mich politisch gesehen gerne in die Mitte, weil von den Rändern her jeweils der Abgrund nicht weit ist.“
Das alles zu erzählen braucht Zeit. Also zählt Karmers Film flotte sechs Stunden, überwiegend in Schwarz-Weiß. Aufgeteilt in sieben Kapitel, die jeweils thematisch in sich geschlossen sind, während zugleich einzelne Erzählstränge immer wieder neu aufgegriffen werden. Er grinst und sagt: „Es ist fast eine Traumgeschichte, weg von den einzelnen Dokumenten hin zu einer größeren Erzählung, also im Prinzip literarisch.“ Karmers stellt auch die Frage nach der Aussagekraft der Quellen. Denn wer hat überhaupt Dokumentarmaterial wie Berichte, Tagebucheinträge oder Fotos hinterlassen? Die Prostituierten, die in den Twieten und Gassen standen? Die schon erwähnten Schlafburschen, vor denen dem Erzähler so graute?
Eine spannende Gestalt ist für Andreas Karmers daher Wilhelm Mehlhop, den er zwischendurch sprechen lässt: „Er war ein Anhänger des Kaisers, ein knarziger Monarchist, der sich bis zum Oberbaurat hochgearbeitet hatte und der im Nachhinein zwei dicke Bücher über die Sanierung des Gänge viertels geschrieben hat, aus denen ich sprechen lasse“, erzählt er. „In verrufenen Kellerräumlichkeiten hausten dort das Laster, der Stumpfsinn und die Ver zweiflung, das Elend und der Abschaum des großstädtischen Lebens. Es waren Gestrandete, die ein abenteuerliches Le ben einem geregelten Beruf vorzogen“, ist so ein Zitat von Mehlhop, der mit für den Abriss des Gängeviertels verant wortlich, weil zuständig war. „Gleichzei tig hat Mehlhop jeden Gang und jede Twiete persönlich aufgesucht, hat sich dort umgeschaut. Das hätte er nicht ma chen müssen; er hätte auch am Schreibtisch sitzen bleiben können“, sagt Karmers. „Er kam von seiner Position nicht herunter, aber er wunderte sich schon, dass die Leute, die im Viertel lebten, sich dort durchaus wohlfühlten und es sehr bedauerten, dass alles abgerissen wird und sie gehen müssen.“
Zugleich möchte Kramers das Leben in den Gängen nicht nachträglich romantisieren. „Wenn amtlicherseits im mer wieder von ‚Gesindel‘ die Rede ist, ist das ja nicht ganz verkehrt, denn es gab neben der Armut durchaus Ecken, in die man gelockt wurde, um ausge raubt zu werden“, sagt er. Die Zwischen töne sind es, die ihn interessieren.
Und – wie wird die Reaktion des Publikums sein? Andreas Karmers steckt sich eine Selbstgedrehte an. „Es geht um Stadtplanung, um Hamburger Geschichte, das wird eher niemand schauen, der Tom Cruise mag“, sagt er und lacht. Er hat einen Verdacht: „Es gibt Filme, die sich erst allmählich durch setzen, die später Klassiker werden. Ich glaube, mein Film ist so ein Kandidat.“
Und er selbst? Er will wieder an die Staffelei! Denn eigentlich sei er Maler. „Ich habe bis auf ein paar Zeichnungen zwischendurch nichts gemacht; parallel geistig switchen, das wäre nicht gegangen“, sagt er. Also jetzt kommt erst mal die Premiere, dann das nächste erste Bild. Der 56-Jährige sagt erkennbar zufrieden: „Wir haben doch so viel Lebenszeit, da kommt es auf ein paar Jahre nicht an.“