Fair einkaufen: Hinz&Kunzt-Autoren im Dschungel der modernen Warenwelt
(aus Hinz&Kunzt 158/April 2006)
Mein Schirm und ich
Von Handarbeit in China und Hamburg – Warum es Regenschirme für 1,99 und 75 Euro gibt
Carola Vertein spannt einen weißen Stockschirm auf. Nicht gegen Regen, sondern als Demonstration. Wir stehen in ihrem Laden „Schirm&Co“ in der Rosenstraße (City). Der Schirm kostet 9,90 Euro. Carola Vertein hält ihn auf Hüfthöhe und lässt ihn fallen: Zwei Stangen sind gebrochen. Sie nimmt ein anderes Modell, einen Schirm für 75 Euro, den sie selbst gefertigt hat. Den lässt sie aus Kopfhöhe auf den Boden sausen. Der Schirm mit dem englischen Federstahlgestellt springt hoch, unversehrt. War was?
In jedem deutschen Haushalt gibt es mindestens einen Regenschirm. Aber wo kommen die Begleiter für die grauen Abschnitte des Lebens her? Und warum kosten sie im Drogeriemarkt 1,99 Euro, im Fachgeschäft fast das 40-fache?
Mein Interesse hat eine Vorgeschichte: Hinz&Kunzt wollte im vergangenen Jahr einen Schirm in Auftrag geben, mit Werbung in eigener Sache: „Damit jeder ein Dach über dem Kopf hat: Hinz&Kunzt“, oder: „Hilft bei Niederschlägen“. Eine Kollegin holte Angebote ein, das billigste lag bei 2,95 Euro. Bei manchen Modellen war der Aufdruck teurer als der Schirm. Dann tauchte die Frage auf: Woher kommen die eigentlich? Aus China, sagten die Händler. Weil wir auf die Schnelle nicht prüfen konnten, wie dort die Arbeitsbedingungen sind, haben wir die Akte „H&K-Schirm“ zugeklappt. Mit einem Produkt, für das in Asien womöglich Menschen ausgebeutet werden, für gute Taten in Hamburg werben? Bloß das nicht.
Bei Carola Vertein ist die Fertigung nur ein paar Schritte entfernt: in einem Raum hinter dem Laden, der zugleich als Büro dient. Sie stellt eine Nähmaschine mit Rollsaumfuß auf die Arbeitsplatte. Pappdreiecke dienen als Schablonen, um den Stoff zuzuschneiden, den sich die Kunden vorher aussuchen können. Das Gestell hat sie von englischen und italienischen Herstellern fertig gekauft. Dann beginnt unspektakuläre Fleißarbeit: „Man muss den Stoff korrekt zusammenlegen und nähen, mehr ist es nicht“, sagt Carola Vertein. Arbeitszeit pro Schirm: zwei Stunden. Der Kunde zahlt 75 bis 129 Euro und hat für die nächsten zwei Jahrzehnte einen maßgeschneiderten Schirm, passend zur eigenen Körperlänge.
Einen Schirm, dessen Stoff so gespannt ist, dass der Regen angenehm darauf trommelt. „Das ist Musik“, schwärmt die Schirmfrau. „Früher haben sich die Menschen unter einem Schirm verliebt.“ Dagegen die Billigmodelle heute: flaues, flatteriges Platschen. Vielleicht für Beziehungsdiskussionen geeignet. „Wenn sie es überhaupt aus dem Laden schaffen“, sagt Carola Vertein.
Zur besseren Musik die bessere Geschichte: 130 Jahre Firmentradition gibt es bei Verteins kostenlos dazu. 1876 gründete Verteins Urururgroßvater die Firma Schirm Eggers. Das Unternehmen hatte zuletzt elf Filialen in Hamburg, in der Näherei waren fünf Mitarbeiter tätig. Nach der Insolvenz folgte die Neueröffnung als kleiner Familienbetrieb. Vater Frank Vertein war einer der letzten Schirmmachermeister Deutschlands, 1999 wurde die Innung aufgelöst. Der Senior würdigte den Schirm als „Kulturgut“ und, sofern solide gefertigt, auch als „Meinungsverstärker“. „In Hamburg sind wir heute die Einzigen, die Schirme herstellen“, sagt Carola Vertein. Nur noch neun weitere Geschäfte gebe es in Deutschland.
Aber auch sie verkauft Billigschirme, die besseren unter den billigen: für 9,90 Euro. „Wir können die Kunden nicht erziehen. Wenn sie ohnehin billige Schirme kaufen, dann lieber bei uns“, sagt die Geschäftsfrau. Hergestellt würden sie in China. „Die Händler versichern, dass Sozialstandards eingehalten werden, zum Beispiel dass die Arbeiter mindestens 13 Jahre alt sind und bei Krankheit nicht gekündigt werden.“
Mit einigen Rätseln bleibe ich nun doch im Regen stehen. Zum Beispiel macht Carola Vertein mit dem importierten Billigschirm, der um die halbe Welt gereist ist, mehr Gewinn als mit dem handgefertigten Produkt aus ihrem Hinterzimmer. Ein anderes Rätsel: Mancher sagt, 75 Euro für einen Schirm könne und wolle er nie bezahlen. Obwohl der Schirm 20 Jahre hält (auch weil man besser darauf aufpasst). Und in derselben Zeit kaufen dieselben Leute eine Vielzahl von Billigschirmen – und geben zusammengerechnet weit mehr als 75 Euro aus.
Was die Sache zusätzlich kompliziert macht: Es gibt teure Schirme von gediegenen Marken, die trotzdem schlecht sind, sagt Carola Vertein. Der Preis allein ist kein Ausweis für Qualität. Die Kunden müssen sich schlau machen. Das ist das letzte Rätsel: Wollen wir das überhaupt – uns informieren über jedes Produkt, das wir kaufen? Über Qualität bei Schirmen weiß Carola Vertein Bescheid. Kauft sie selbst deshalb andere Produkte kritischer ein, fragt sie mehr nach? Nein, sagt sie freimütig, dafür sei nur selten Zeit.
Bleiben noch die Arbeitsbedingungen in den chinesischen Fabriken. Anruf bei Gremo in Regensburg, 1947 gegründet, nach eigener Aussage der älteste Schirmimporteur Deutschlands und eine von vier großen Firmen der Branche. Zuerst sei in Japan gefertigt worden, dann in Taiwan, und seit Ende der 80er-Jahre beziehe Gremo Schirme vor allem aus China, erzählt Geschäftsführer Alexander Gref. Direkt von den Herstellern – die Manufakturen liegen im Küstenstreifen zwischen Hongkong und Shanghai. Die Lohnkosten sind niedrig, das zählt. Denn Maschinen, die Schirme konfektionieren, gibt es nicht.
Verlangt Gremo die Einhaltung sozialer Standards? „Wir sind kein Konzern, der seinen Lieferanten etwas vorschreiben könnte“, sagt Gref. „Was wir tun, tun wir mit gesundem Menschenverstand.“ Er sei selbst regelmäßig vor Ort, manchen Hersteller kenne er schon seit Jahrzehnten. Arbeiten Kinder und Jugendliche mit? „Definitiv nein“, sagt Gref. Was passiert, wenn Arbeiter krank werden? Der Geschäftsführer atmet aus. Nein, genau wisse er das nicht; jedenfalls gebe es nur sehr wenige bezahlte Krankheitstage. Gewerkschaften, Betriebsräte? Keine, nur eine Vertretung mit eingeschränkten Rechten.
Auch Gremo importiert Schirme, die für 1,99 Euro im Laden liegen. Schätzungsweise 40 Cent kostet die Herstellung, weniger als 20 Cent der Transport. Den größten Teil kassiert der Verkäufer in Deutschland.
Ein paar Tage später: Schneeregen. In der Redaktion hängt ein Schirm in Regenbogenfarben an der Garderobe, den eine Kollegin an diesem Morgen für 4,95 Euro erstanden hat. Kein Hinweis, wo er hergestellt wurde. Die Kollegin kauft solche Schirme nicht nur einmal im Jahr, wie sie sagt. Ich weise mich als Produktkenner aus, spanne den Schirm auf, halte ihn auf Hüfthöhe und frage: „Soll ich den mal fallen lassen?“
Detlev Brockes
Mein Billy und ich
35 Millionen Mal verkauft: das Ikea-Regal aus Pressspan und Furnier. Zumindest seine Möbel lässt der Konzern in Europa fertigen
„Ivar?“ Meine Frau war entsetzt. Endlich hatten wir eine große Wohnung gefunden, nun galt es all meine Bücher unterzustellen. Ich dachte an Ivar. Ivar von Ikea. Schlicht und schnörkellos. Zwei Seitenteile, Regalböden dazwischen. Keine Seitenwände, keine Rückenwand. „Warum nicht gleich Sten?“, fragte meine Frau spöttisch. Aber das grobe Sten mit seinen dreigeteilten Böden – auch Ikea – geht wirklich nur für den Keller.
Wir fuhren los. Billy gibt es in weiß, schwarz und grau. Und mit Birken-Furnier: Billy Birke. Das Aufbauen ist einfach. Unser Sohn ist Meister darin, er ist neun.
Ein Billy sieht nicht schlecht aus. Zwei sind besser, drei richtig cool – und vier erst! Eine geschlossene Wand (dank Billy-Aufsätzen bis unter die Decke) ist so richtig schön zum Angeben. Und gar nicht teuer. Zusammen stehen da vielleicht 450 Euro. Wenn man bedenkt, dass schon ein Taschenbuch schnell zehn Euro kostet, in eine Regalreihe locker 40 Bücher passen und ich pro Billy über sieben Reihen verfüge, ist der Preis mehr als in Ordnung.
Aber ist Billy okay? Wer muss dafür herhalten, dass es so wenig kostet? Hergestellt in Kinderarbeit? Gefertigt von Chinesen, die in Arbeitslagern festsitzen, nur weil sie mal „Menschenrechte“ bei Google eingegeben haben? Und wird dafür schnelllebiges Kiefernholz gepflanzt, auf dass die Wälder veröden?
Billy ist nicht wirklich aus Holz. Sondern aus Pressspänen, mit Echtholz furniert oder mit Folie versehen. Könnte also fieser Kleber sein. Der mit der Zeit ausdünstet und aufs Hirn schlägt. „Der Kleber ist in Ordnung“, sagt Sabine (ich denke, das geht klar, dass ich zu Sabine Nold einfach Sabine sage, denn bei Ikea duzen sich alle – Firmenphilosophie). Sie ist in der Ikea-Deutschlandzentrale in Hessen für die Pressearbeit zuständig und kommt mit einem soliden Argument: Gut 35 Millionen Billys wurden bisher verkauft, nie gab es gesundheitliche Beanstandungen. Mein Billy könnte ich überall auf der Welt kaufen. Aber gefertigt wird es vorzugsweise in Polen. Das Birkenfurnier meiner Billy-Regale kommt aus der Nähe von Berlin. Ikea Möbel werden überhaupt nur in Europa hergestellt. (Der Kleinkram von der Tasse bis zum Teppich, mit dem Ikea den Löwenanteil seiner Gewinne einfährt, kommt von weiter her. Der Jahresumsatz liegt inzwischen bei fast 15 Milliarden Euro.)
In den Achtzigern haben Umweltschutzgruppen aufgrund von Presseberichten über angebliche Kinderarbeit zum Boykott von Ikea-Produkten aufgerufen, aber bei näherer Betrachtung waren die Vorwürfe meist unbegründet. Wenn doch etwas dran war, handelte das Unternehmen schnell und kündigte die Verträge mit den Subunternehmen. In den vergangenen Jahren hat Ikea Vereinbarungen zur Ächtung von Kinderarbeit sowie zur Einhaltung von Arbeitsschutzbestimmungen unterschrieben, unter anderem mit dem Internationalen Bund der Bau- und Holzarbeiter (IBBH), in dem weltweit über 270 Gewerkschaften vertreten sind. Vieles ist recht vage formuliert, andererseits nimmt man Kinder bis zu einem Alter von 15 Jahren in Schutz – und nicht nur bis 13, wie oft üblich. Zugleich gibt Ikea Geld für den Wiederaufbau von Schulen im Kosovo oder spendete an Unicef, Robin Wood oder Greenpeace – oft dann, wenn von dort aus kritische Stimmen zu hören waren.
Und man setzt nach eigenen Angaben darauf, vor Ort tätig zu sein: Sabine war unlängst in Indien. Dort gibt es eine von Ikea finanzierte Kinder-Ombudsfrau, die danach schaut, dass die Kinder der Frauen, die für Ikea etwa Kissen nähen, regelmäßig geimpft werden und zur Schule gehen. Groß an die Glocke hängt man das nicht. Die Welt der Ikea-Kaufhäuser ist rundum heil. Da möchte man vermutlich nicht, dass beim Schlendern durch Küchen, Wohn- und Kinderzimmer die Gedanken in die unwirtliche Ferne schweifen.
Meine Frau hat kein Billy. Sie hat Monta. Monta ist ein holländisches Regalsystem aus massivem Fichtenholz, das seit 30 Jahren in einem kleinen Laden mit lauschigem Hinterhof im Schanzenviertel vertrieben wird. Sorgsam und ausführlich wird man beraten. Die Mitarbeiter gönnen sich sogar eine Mittagspause und widerstehen damit dem allgemeinen Wahnsinn, immer erreichbar zu sein. Die angeschlossene Tischlerei schneidet Monta-Regale individuell zu. Das hat seinen Preis: Meine vier Billys zusammen ergeben gerade anderthalb Montas. Im Arbeitszimmer stehen sie sich gegenüber. Rechte Wand Billy Birke, linke Wand Monta schwarz. Einträchtig stehen sie da und schauen sich an. 24 Stunden lang. Tag für Tag, Woche für Woche, Jahr für Jahr. Sie scheinen sich gut zu vertragen.