Hausbesuche statt Fallmanagement: Bremens Jugendämter haben auf den gewaltsamen Tod des kleinen Kevin reagiert. Teil zwei unserer Serie
(aus Hinz&Kunzt 185/Juli 2008)
Bremen, an einem Freitagabend. Christa Beißert hat gerade einen Anruf bekommen und ruft sofort ein Taxi. Die Jugendamtsmitarbeiterin betreut an diesem Wochenende mit ihrem Kollegen Günter Friedrich das Kinder- und Jugendnotdiensttelefon, das die Stadt Bremen vor wenigen Monaten eingerichtet hat: „Seit der kleine Kevin so schrecklich zu Tode gekommen ist, hat sich hier einiges getan. Jetzt gibt es endlich das Nottelefon, über das wir rund um die Uhr erreichbar sind.“
In Oslebshausen, einem der sozialen Brennpunkte Bremens, wartet schon die Polizei. Es geht um einen zweieinhalbjährigen Jungen, den sein Vater aus der Wohnung der Mutter mit zur Großmutter genommen hat. Die Mutter, sagt er, sei auf Droge, er habe gesehen, wie der Kleine durch die offen stehende Wohnungstür nach draußen auf die Straße gelaufen sei. Die Mutter habe das nicht gemerkt. Deshalb habe er ihn mit zur Oma genommen.
Christa Beißert und Günter Friedrich setzen sich mit den Polizisten ins Wohnzimmer und besprechen die Situation. Die Mutter riecht nach Alkohol, Spritzen wurden auch gefunden. Aber sie hat das alleinige Sorgerecht und weigert sich, ihren Sohn übers Wochenende bei der Großmutter zu lassen. Den Jugendamtsmitarbeitern bleibt keine Wahl: Sie nehmen den kleinen Jungen mit, bei der Mutter wäre er nicht sicher. Christa Beißert und Günter Friedrich packen eine Tasche für den Zweijährigen und fahren ihn ins Hermann Hildebrand Haus, einer Notunterkunft für kleine Kinder. Der Junge fragt immer nach seiner Oma und möchte so gerne bei ihr bleiben. Aber weil sich die Eltern streiten, darf er nicht.
Der nächste Notruf am späten Abend: Eine 14-Jährige meldet sich bei der Polizei, weil sie von ihren Eltern verprügelt wurde. Die Polizei leitet den Anruf ans Jugendamt weiter. Das Mädchen ist zu seiner Freundin geflüchtet und möchte nicht mehr nach Hause. Auch hier muss eine Lösung fürs Wochenende gefunden werden. Gleich am Montag soll eine Konfliktberatung mit Eltern und Tochter anfangen.
Es ist ein Uhr morgens, als Christa Beißert schließlich von ihrem Einsatz zurückkehrt. Bis zum nächsten Morgen bleibt das Telefon stumm.
Ihr eigentliches Revier ist Tenever. Der Stadtteil am Bremer Kreuz ist ein typisches 70er-Jahre-Monstrum mit vielen Hochhäusern, einem Einkaufszentrum, das vor sich hinmodert, und Mietern, die sofort das Weite suchen, wenn sie es sich leisten können. Über die Hälfte der 5500 Bewohner lebt von staatlicher Unterstützung, 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen bis 14 Jahre fallen unter die Armutsgrenze: Ihnen stehen etwa 250 Euro im Monat zur Verfügung.
Einmal pro Woche hält die Sozialarbeiterin hier ihre Sprechstunde ab. „Nur wenn wir vor Ort präsent sind, nehmen uns die Leute wahr. Die Sprechstunde ist das, was wir ein niedrigschwelliges Angebot nennen. Wenn jemand zu mir möchte, muss er nicht den Bus oder die Straßenbahn nehmen, er kommt einfach ins ‚Haus der Familie‘.“ Das macht Christa Beißert seit zwölf Jahren so.
Drei Klienten warten schon, als sie das kleine Büro betritt, das sie für die Sprechstunde nutzt. Eine Mutter möchte wissen, wie sie ihren sehr unruhigen, verstörten Sohn besser unterstützen kann, ein Mann möchte endlich aus seiner Wohnung ausziehen, aber das Sozialamt zögert mit der Zustimmung für die größere Wohnung. Eine dritte Frau klagt darüber, dass sie ihr Kind nicht sehen darf, obwohl sie ihre Alkoholprobleme inzwischen viel besser im Griff habe. Alltagsprobleme. Manchmal findet Christa Beißert eine Lösung, manchmal kann sie einfach nur zuhören, wie ihr jemand sein Herz ausschüttet.
Aber die kritischen Fälle erreicht sie so nicht, weiß Christa Beißert: „Gerade die Menschen, die Angst vor uns haben, weil sie fürchten, dass wir in ihre Familien eingreifen, versuchen sich eher unsichtbar
zu machen. Zu denen muss man hingehen. Gerade die Familien mit den ganz kleinen Kindern, die noch nicht in Krippe oder Kindergarten sind, nehmen wir gar nicht wahr. Denen begegnen wir bei unserer Arbeit gar nicht.“
Deshalb fährt sie nach der Sprechstunde nicht zurück ins Amt, sondern stellt ihr altes Hollandrad vor der Neuwieder Straße 3 ab. Arbeit vor Ort statt Fallmanager hinter Aktenbergen. Auch das ist eine Folge von Kevins Tod. Hausbesuche gibt es jetzt öfter. Die Stadt Bremen hat 30 zusätzliche Stellen für den Kinderschutz geschaffen. Heute muss Christa Beißert zu Familie K. im vierten Stock. Ein schwieriger Fall. Die Eltern sind 22 und 24 Jahre alt und leben mit ihren vier Kindern auf vielleicht 70 Quadratmetern. Die Wohnung wirkt heruntergekommen. In der Küche stapelt sich das dreckige Geschirr, in einer Plastikbadewanne schläft der Hund. Alle Türen sind kaputt, hängen nur noch lose in den Angeln.
Seit einem Jahr betreut Christa Beißert die Familie, auf die sie nach einem anonymen Hinweis aufmerksam geworden ist. Die beiden älteren Kinder Kim und Tobias – 9 und 5 Jahre alt – verhalten sich in Schule und Kindergarten auffällig. Nico, der Kleinste, gerade mal ein Jahr alt, sitzt teilnahmslos im Laufstall.
Familie K. soll umfassend betreut werden: Schon wenn die Kinder aufstehen, ist ein Familienhelfer da. Der unterstützt die Eltern beim Frühstück und dabei, den Haushalt zu organisieren. Auch wenn die Kinder aus der Schule und dem Kindergarten zurückkommen, werden sie aufgefangen. Ein Riesenprogramm, das auch für die Eltern eine erhebliche Strapaze bedeutet. Aber sie lassen sich darauf ein. Sie wissen: Sonst riskieren sie, dass ihnen die Kinder weggenommen werden.
Christa Beißert will jetzt genau beobachten, ob die Kinder mit der ambulanten Hilfe besser versorgt werden: „Wir sehen keine akute Kindeswohlgefährdung in der Familie, aber schon eine Haltung der Eltern, die die Kinder nicht so im Blick hat, wie das sein sollte. Deshalb werden wir in einigen Wochen entscheiden, wie es weitergeht.“
Hilfe und Kontrolle – das sind die zwei Seiten der Jugendamtsarbeit. Einerseits bietet das Amt finanzielle Unterstützung, Beratung in Lebenskrisen oder praktische Hilfe im Alltag. Wenn diese Hilfen nicht das richtige Ergebnis bringen und das Jugendamt ein Kind als akut gefährdet einstuft, geht es um Kontrolle: Das Amt diktiert mit Hilfe der Familiengerichte unter Umständen, dass ein Kind aus der Familie zu nehmen ist. „Das ist natürlich das letzte Mittel, und das machen wir sehr ungern. Aber gerade nach dem Tod von Kevin gehen wir manchmal entschlossener vor“, sagt Christa Beißert.
Tatsächlich sind die Fallzahlen in Bremen dramatisch gestiegen. Laut Senat werden derzeit 140 bis 160 Kinder jährlich aus ihren Familien in staatliche Obhut genommen. Vor Kevins Tod waren es etwa 60 bis 80 Fälle.
Christa Beißert ist es sehr wichtig, alle großen Entscheidungen nicht nur mit den Kollegen zu besprechen, sondern auch in dem Netz, das sich in Tenever gebildet hat. Lehrer, Erzieher, Psychologen und Sozialarbeiter des Jugendamtes setzen sich einmal pro Monat im „Arbeitskreis Kinder“ zusammen, um über akute Fälle zu diskutieren – wie die Familie K. Kims Lehrer äußern ihre Einschätzung, der Schulpsychologe, die Psychologin der heilpädagogischen Einrichtung, in der Tobias nach dem Kindergarten spielt. Alle sind sich einig, erst noch einmal mit ambulanten Hilfen die Familie zu unterstützen, gleichzeitig aber genau zu beobachten, ob es den Kindern besser geht.
Christa Beißert fühlt sich in ihrer Einschätzung bestätigt. „Wir wollen ja, dass die Familie zusammenbleiben kann.“ Außerdem, sagt sie ganz pragmatisch, ist dieser Fall wie alle anderen ein Rechenexempel: „Was kostet es, wenn ich ein Kind mit einem Jahr in eine Einrichtung gebe und bis zu seinem 18. Lebensjahr finanzieren muss? Das muss man sich auch überlegen. Aber das darf natürlich nicht im Vordergrund stehen.“
Zwei Wochen nach dem Besuch bei Familie K. zieht Christa Beißert doch die Notbremse. Alle Kinder werden in Obhut genommen: „Die Familienhelfer haben uns berichtet, dass der Kleinste stundenlang in ein abgedunkeltes Zimmer zum Schlafen abgelegt wurde, niemand hat sich um ihn gekümmert, er war völlig apathisch. Die beiden Ältesten wurden immer auffälliger in ihren Einrichtungen, so dass wir handeln mussten.“ Drei Kinder sind jetzt in einem Übergangsheim außerhalb von Bremen untergebracht, für den Kleinsten sucht das Jugendamt eine Pflegefamilie.