Früher war nicht unbedingt alles besser. Aber früher gab es den Sperrmüll. Alle drei Monate stellte man seinen ausrangierten Krempel auf die Straße – und schaute, was die anderen dazupackten. Frank Keil (Text) erinnert an ein rauschendes Fest im Sommer 1983.
(aus Hinz&Kunzt 254/April 2014)
Ach Sperrmüll! War das damals wunderbar. Alle waren bei Einbruch der Dämmerung auf den Beinen, zogen durch ihren Stadtteil auf der Suche nach Schätzen, nach irgendetwas Brauchbarem oder auch nur, um zu staunen, was die Leute einmal im Quartal so alles wegwarfen, das man doch noch gut gebrauchen konnte oder das einfach schrill und lustig war.
Erst war es ein kleiner Haufen, der sich an irgendeiner Straßenecke bildete. Dann wurde er nach und nach größer, kam plötzlich ins Rutschen, wurde sofort gestützt durch weitere Matratzen, Schrankwände, Lampenschirme, Klobecken oder Bettgestelle. Dazwischen jede Menge Krimskrams – Geschirr, Kleidung, Gardinen. Mit etwas Glück konnte man alles beherzt auf einen gefundenen Kinderwagenuntersatz packen, selbst wenn der nur noch drei Räder hatte, und nach Hause fahren.
Klar, es ging auch ums Geldsparen. Ich wohnte damals auf St. Pauli in einer Wohngemeinschaft, wir waren meistens gut gelaunt, aber das Geld war eher knapp. Ständig war etwa die Waschmaschine kaputt. Und welch Wunder, wenn wie bestellt der Nachbar eine Waschmaschine hinaustrug und halblaut zu uns sagte: „Nehmen Sie die ruhig mit, die tut’s noch, aber meine Frau wollte unbedingt eine neue.“ Und während er aufstöhnte, die Augen verdrehte, packten wir schon an und hatten wieder 100 D-Mark gespart, die so ein Teil beim Elektrotrödler gekostet hätte. Und dann der Triumph gegenüber den anderen Sperrmüllsuchern, die zu spät um die Ecke kamen und so taten, als würden sie sich über einen zerschlissenen Läufer freuen, der zwischen Brettern und Matratzen hervorlugte.
„Sperrmüll, 1983“ heißt ein neues Fotobuch des Hamburger Fotografen Thomas Henning, der mit seinen Bildbänden „Straßenfotos – Hamburg um 1975“ und „Schanze, 1980“ so trefflich den Wandel unserer innenstädtischen Viertel dokumentiert hat. Nun hat er erneut sein Fotoarchiv gesichtet und Farbfotos aus dem Sommer 1983 hervorgeholt.
Damals fuhr er mit seinem Mini Cooper abends kreuz und quer durch die Stadt, hielt in Altona und auf St. Pauli, beobachtete aber auch in Mümmelmannsberg oder den Elbvororten die Menschen, wie sie begeistert durch den Sperrmüll zogen: Junge und Alte, Urhamburger und frisch Eingewanderte, Amateure und Profis, die sich den Sperrmüllhaufen stets mit einer Taschenlampe näherten und die Handschuhe trugen. „Im Karolinenviertel flogen schon mal die Matratzen aus dem Fenster“, erinnert sich Thomas Henning. „Und St. Georg war noch ein sehr spannender, sehr durchmischter Stadtteil.“ Überhaupt: Im Vergleich zu heute sei Hamburg noch schwer proletarisch gewesen.
„Mann, war das ein geiler Sommer“, sagt er plötzlich. Es sei eine Superstimmung gewesen. Und alle, die er abbilden wollte, ließen sich ohne zu zögern fotografieren. Er schaut auf seine Fotos, zeigt auf die Gehwege, die Straßen und es fällt sofort auf, wie ruhig und gelassen die Stadt wirkt: „Obwohl überall Sperrmüll lag, war es für mich zum Beispiel nie ein Problem, einen Parkplatz zu finden. Das ist heute bei dem Verkehr und der dichten Bebauung undenkbar.“
Er selbst sei damals nicht der typische Sperrmüllsammler gewesen, dennoch sind ihm diese bis heute keinesfalls fremd: „Fotografen wie ich verhalten sich nicht groß anders als die Sperrmüllsucher. Wir sind auf der Suche nach Schätzen, die andere achtlos liegen lassen, und heben sie.“
Ach ja – die Schätze! Man stieß beim Kramen nicht nur auf jede Menge Tische, Stühle oder kleine Schränkchen mit verzierten Leisten, die wir mitnahmen in der Vorstellung, wir könnten sie gebrauchen. Oft war in beigestellten Kartons oder abgeschabten Kunstlederkoffern auch überaus Persönliches zu entdecken: Briefe, Fotoalben, Diakästen, wo uns unbekannte Menschen zeigten, wie sie 1963 vorm Hermannsdenkmal standen oder zehn Jahre später in der Altstadt von Palma de Mallorca. Super-Acht-Filme von Kindergeburtstagen oder Ausflügen nach Hagenbeck erlaubten Einblicke in fremde Leben.
Ich erinnere mich an einen Stapel Kassetten, auf denen ein Mann mit müder, brüchiger, aber trotzdem zorniger Stimme sein Leben nacherzählte. Er hatte sich offenbar mit seiner ganzen Familie überworfen. Selbst auf einer Beerdigung hatte er seinen Kassettenrekorder mitlaufen lassen: Man hörte den Singsang des Pfarrers und unterdrücktes Schluchzen, das in der Kapelle sehr nachhallte. Ein Klicken, die Aufnahme war beendet, eine kurze Pause, dann sprach wieder der Mann: „Diese scheinheilige Bande, verrecken sollen sie! Alle!“
1983 war – auch das sieht man sofort auf Hennings Bildern – ein überaus heißer Sommer; ein Jahrhundertsommer mit Temperaturrekorden. Es ist ein intensives, besonderes Jahr: Helmut Kohl gewinnt im Frühjahr die Wahl, die Grünen ziehen erstmals in den Bundestag ein. Der „Stern“ veröffentlicht die Hitler-Tagebücher, die Bundesregierung vermittelt der DDR einen Milliardenkredit, Udo Lindenberg tritt im Palast der Republik auf und mehr als eine Million Menschen demonstrieren im Herbst gegen den NATO-Doppelbeschluss: „Heißer Herbst“ wird folglich das Wort des Jahres. In Hamburg wird die Rockergruppe „Hells Angels“ verboten und ihr Vereinslokal in der Schanzenstraße dank des größten Polizeieinsatzes der Nachkriegszeit geschlossen. Aus der Deponie Georgswerder sickern Dioxine ins Grundwasser und Hamburg hat seinen bis heute größten Umweltskandal, der HSV gewinnt die Deutsche Fußballmeisterschaft. Und der Sommerhit des Jahres war „Sunshine Reggae“ von dem heute längst vergessenen Popduo Laid Back, der mit seinem banalen, aber swingenden Refrain so gut passte, wenn wir noch spät in der Nacht nur im T-Shirt und in abgeschnittenen Jeans unterwegs waren, mit dem Sperrmüllkalender in der Hand, der uns den Weg in das richtige Viertel wies. Wobei Sperrmüll nicht nur ein Vergnügen für uns Erwachsene war: Es war auch ein Paradies für die Kinder, die sich mit den gefundenen Sachen verkleideten, die auf Matratzen turnten oder auf den damals modischen Sitzsäcken herumsprangen, bis sie platzten und die Styroporkugeln nur so über den Gehweg rollten. „Man durfte Sachen kaputtmachen“, sagt Thomas Henning mit einer gewissen Inbrunst in der Stimme.
Natürlich gab es den Morgen danach: Wenn wir das des Nachts im Flur Abgestellte nun in der Nüchternheit des Tageslichtes betrachteten und es schleunigst wieder runter auf die Straße zu den auseinandergetretenen Sperrmüllbergen brachten. Wo wir uns natürlich sofort wieder umschauten: Denn es gab diese Leute, die morgens in aller Frühe ganz heimlich ihren Sperrmüll zum Sperrmüll brachten, weil sie aus irgendwelchen Gründen nicht wollten, dass man in ihren Sachen wühlte – gewissermaßen die Nachlese.
Und dann kamen sie und machten alles kaputt. Man hörte schon von Weitem das Brummen des Müllwagens und das Geräusch, wenn die Hydraulik angeworfen wurde, die Presse sich in Gang setzte und Holz zersplitterte, Glas zerbrach und Metall sich verbog. Die Party war zu Ende.
Heute fährt man seinen Sperrmüll jeweils für sich alleine auf einen Recyclinghof, wo das Mitgebrachte in aller Nüchternheit in verschiedene Wertstoffkategorien eingeteilt wird (und wehe, man legt Holz in den Container mit dem Elektroschrott!). Das ist bestimmt sinnvoll, und ich will da gar nichts gegen sagen. Aber es ist so vernünftig, so durchdacht und auch ein wenig langweilig. Denn mit den Sperrmüllnächten ist auch so vieles andere verschwunden: die Autoschrauber in den Hinterhöfen, die Drogerien mit ihrem Krimskrams, die Wäschestangen, an denen die Bettwäsche flatterte, die Brachen, wo Jugendliche in aller Ruhe Unsinn machen und sich ausprobieren konnten und die heute ausnahmslos bebaut sind. Thomas Henning sagt: „Wollen wir denn in einer Stadt wohnen, die aussieht wie die Bildschirmoberfläche eines Rechners, wo der Müll in einem Ordner versteckt ist?“
In den letzten Jahren habe ich manchmal einen Müllwagen gesehen, der mit Stofftieren drapiert war. Große, kleine, blitzeblaue oder bärenbraune Stofftiere klemmten hinter der Stoßstange oder im Gestänge, wo man die Müllcontainer einrastet, um sie leerzuschütteln. Eben noch in einem Kinderzimmer zu Hause, dann in den Müll geworfen und nun fuhren sie stolz durch die Stadt, denn – da bin ich ganz sicher – in jedem tätowierten und muskelbepackten Müllwerker steckt ein kleiner Junge und damit ein Sucher und ein Retter. Aber auch dieser Müllwagen, als letzter Gruß aus paradiesischen Zeiten des Sperrmülls, ist inzwischen verschwunden. So vieles verschwindet; ich finde, eine gewisse Melancholie ist da durchaus angebracht. Thomas Henning schließt seinen Laptop, auf dem er seine Bilder gespeichert hält, atmet tief ein und sagt zum Abschluss: „Dabei macht doch das Chaos das Leben interessant, nicht das Geordnete.“
Thomas Henning: Sperrmüll, 1983; Junius Verlag, 112 Seiten, 19,90 Euro. Erscheint im Laufe des Aprils.