Drogen, Schläge, Selbstmordgedanken: Jesse-James Cameron erzählt von seinem Leben, das einem Ritt auf der Rasierklinge glich. Heilung kam in Form einer Gitarre. Mit seiner Band Makeshift Innocence spielt der Kanadier seinen lebensfrohen Roots-Rock-Reggae nun in Hamburg.
(aus Hinz&Kunzt 246/August 2013)
Ich singe sehr viel über Liebe, weil ich sie als Kind kaum kennengelernt habe. Mein Vater war Drogendealer. Eines Tages standen plötzlich 60 Polizisten in unserem Vorgarten und führten ihn in Handschellen ab. Da war ich gerade mal 13.
Meine Mutter wurde depressiv und tablettenabhängig. Sie schrie mich und meine Geschwister dauernd an, schlug uns. Eines Tages habe ich sie geschlagen. Ich wollte das nicht. Mein Herz brach in diesem Moment. Ich sprang in Panik aus dem Fenster. Die Polizei griff mich auf, schickte mich weg. Über Jahre hinweg lebte ich bei Leuten, die ich mehr oder weniger gut kannte. Im Sommer habe ich oft auf der Straße geschlafen. Ich war auch mit Frauen zusammen, nur weil ich bei ihnen wohnen konnte. Aus einem Wohnheim bin ich rausgeflogen, weil sie dachten, ich wäre ein Schläger. Dabei habe ich nur trainiert, um mich fit zu halten. Ich habe niemandem erzählt, dass ich obdachlos bin. Fürs Betteln war ich zu stolz. Ich habe mich so durchgeschlagen, habe meine Mitschüler nach Kleingeld gefragt, angeblich fürs Telefonieren. Wenn ich fünf Dollar zusammenhatte, habe ich mir etwas zu essen gekauft.
Mit 18 Jahren fing ich an, mich für Geld zu schlagen. Später habe ich als Geldeintreiber gearbeitet. In diesem Jahr war ich am Tiefpunkt. Ich wollte Schluss machen: mein Auto gegen die Wand setzen. Aber dann sah ich auf einem Parkplatz dieses Mädchen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Sie war lange meine Freundin, wir haben uns sogar verlobt. Ich habe aber nicht mit meinen krummen Touren aufgehört. Mit 21 Jahren hatte ich deswegen eine Morddrohung am Hals. Da musste ich mich entscheiden: Weggehen oder bleiben und es nicht überleben. Meine Verlobte entschied, dass ich gehen sollte. Seitdem haben wir keinen Kontakt mehr.
Ich ging 3000 Meilen weit weg von Ontario nach Calgary: ohne sie, ohne Geld, ohne Perspektive. Aber ein anderes Leben – weit weg von meiner Vergangenheit – schien plötzlich möglich. Bis dahin war ich kein Musiker. Meine Oma hatte mir mal eine Gitarre geschenkt. Aber erst später habe ich die Musik ernst genommen.
Anfangs schrieb ich sehr traurige, wütende Songs. Aber ich wollte mich auf positive Dinge konzentrieren. Das war mir ein inneres Bedürfnis. Ich bin mit all diesen verrückten Geschichten aufgewachsen. Darüber bin ich zum Geschichtenerzähler geworden. Obwohl ich diese schlimmen Erfahrungen gemacht habe, kann ich andere lieben. Man muss loslassen und verzeihen können. Auch wenn es schwer ist. Ich versuche mich immer wieder daran zu erinnern, um was es im Leben wirklich geht. Jeder hat die Möglichkeit, sich seine ideale Welt zu erträumen. Meine Welt soll sonnig, befriedigend und voller Liebe sein.
Protokoll: Simone Deckner
Foto: Benne Ochs
Makeshift Innocence live am 24.8. im Stadtpark,
Support für Johannes Oerding, Tickets ab 29,30 Euro.
Das Album „Yours To Keep“ (Deag/Sony) ist bereits erschienen.
www.huklink.de/makeshiftinnocence