Sterbende sprechen ihre Lebensgeschichte ein.

Mamas Stimme als Abschiedsgeschenk

Hörfunkjournalistin Steffi Wittgenstein vertont die Geschichten von todkranken Menschen. Foto: Imke Lass

Das Projekt „Familienhörbuch“ ermöglicht sterbenskranken Eltern, ihren Kindern eine bleibende Erinnerung zu hinterlassen.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Als Gesche B. erfuhr, dass sie nicht mehr lange zu leben hat, war ihre größte Angst, womöglich in Vergessenheit zu geraten. Ihre Söhne waren erst drei und sechs Jahre alt. Wie sollte sie es ­schaffen, ihnen etwas Bleibendes von sich zu hinterlassen? Diese Frage sei für sie schon bald nach der Krebsdiagnose präsent gewesen, erinnert sich Ehemann Christoph B.: „Neben den ganzen Behandlungen und Therapien hat ­meine Frau sehr früh darüber nachgedacht, wie sie das Ganze auch von der seelischen Seite her für mich und die Kinder auffangen kann.“

Bei ihrer Suche stieß die Mutter auf das Projekt „Familienhörbuch“, das todkranken Eltern die Aufnahme eines professionell gestalteten Hörbuches ermöglicht. So kam sie Ende 2021 mit Audiobiografin Steffi Wittgenstein zusammen, die mit der damals 40 Jahre alten Frau drei Tage lang Interviews in einem Hamburger Hotel führte. Knapp 15 Monate später verstarb Gesche B. an den Folgen ihrer Erkrankung.

Für Steffi Wittgenstein war es das erste Hörbuch, das sie ­betreute. Die Hamburger Hörfunkjournalistin hatte in einem Podcast von dem Projekt gehört und war so begeistert von der Idee, dass sie sich um eine Mitarbeit bewarb. Wenige Monate später saß sie mit Gesche B. zusammen: „Wir waren beide aufgeregt, aber es war schnell klar, dass es gar nicht so belastend wird. Man spricht zwar auch über den Tod, aber vor allem spricht man ja über das Leben.“

Das „Familienhörbuch“ wurde 2017 von der Kölner ­Medizinjournalistin Judith Grümmer gegründet. Seitdem sind mehr als 450 Familienhörbücher entstanden. Deutschlandweit unterstützen freiberufliche Audiobiograf:innen das Projekt. Teilnahmeberechtigt sind Menschen, die lebens­verkürzend erkrankt sind und minderjährige Kinder haben. ­Für sie ist das Familienhörbuch kostenlos. Finanziert wird das Projekt durch Spenden.

Steffi Wittgenstein hat inzwischen zwölf Hörbücher aufgenommen. Sie frage immer als Erstes nach den Groß­eltern, erzählt sie. Das sei für die meisten ein guter Einstieg, um von der eigenen Kindheit zu erzählen, und so gehe es dann chronologisch weiter. Ihre Aufgabe sei es, „links und rechts des Weges Anekdoten zu finden,“ die sogenannten „Perlenmomente eines Lebens“, wie Judith Grümmer es ­genannt habe: bildhafte Momente, in denen man etwas miterleben und den Verstorbenen nahekommen könne.

Gesche B. etwa habe ihren Kindern davon erzählt, wie der DJ auf ihrer Hochzeit beim ersten Tanz den falschen Song gespielt habe. Sie und ihr Mann hätten zunächst versucht, den Fehler zu überspielen, doch dann habe sie doch das richtige Stück verlangt und den Hochzeitstanz wiederholt. Aus dieser Anekdote sei ein Rat an die Kinder entstanden: „Traut euch ruhig, nach einer zweiten Chance zu fragen.“ In einem Kapitel mit der Überschrift „Let’s talk about Sex“ wiederum habe sie den Söhnen ein paar Tipps über den Umgang mit Frauen mitgegeben.

finanziert sich durch Spenden. Aktuell gibt es eine lange Warteliste und das Projekt ist auf Unterstützung angewiesen. Infos unter: www.familienhoerbuch.de/spendenprojekte/

Viele sterbenskranke Eltern hätten das Bedürfnis, ­ihren Kindern die Werte zu vermitteln, die ihnen wichtig seien. So wie Wiebke G., die leidenschaftliche Kitesurferin war: „Sie hat das Kitesurfen als Aufhänger genommen, um ihren Kindern was über Geschlechterrollen zu erzählen. Sie hat von dem Sport geschwärmt und betont, dass ­Frauen den genauso gut können wie Männer.“ Ein Teil­nehmer wiederum habe ausführlich von einer für ihn ­prägenden Reise erzählt und seinen Kindern „Orte in ­Australien, an denen ihr mich finden könnt“ beschrieben.

„Es fließen immer mal wieder Tränen, aber erstaunlich wenige“, beschreibt die Journalistin die Arbeit mit den Sterbenden. Überhaupt sei die Ansprache eher lebensbejahend und positiv, möglichst kindgerecht eben. Eine Ausnahme seien die sogenannten „Tresorkapitel“: Passwortgeschützte Kapitel über schwierigere Themen, von denen die Kinder erst ab einem bestimmten Alter erfahren sollen.

Die fertigen Hörbücher seien meist zwischen fünf und sechs Stunden lang, erzählt Steffi Wittgenstein. Das Hörbuch ihrer letzten Teilnehmerin ist nur drei Stunden lang. Wiebke G. starb kurz vor der Fertigstellung, sodass die Biografin selbst das Vorwort für die Kinder einsprechen musste: „Ich habe eure Mama getroffen und sie hat mir ihre Lebensgeschichte erzählt. Wir sind leider nicht ganz fertig geworden, aber das meiste von dem, was ihr wichtig war, ist drin.“

Christoph B. weiß, dass es seiner Frau Gesche viel ­bedeutet hat, das Hörbuch hinterlassen zu können. Er habe sie während der Aufnahmen im Hotel besucht und sie sei gelöst und gut gelaunt gewesen. Seinen Kindern habe er allerdings noch nichts davon erzählt: „Sie haben erst seit Kurzem so etwas wie einen normalen Alltag, ohne die Einschränkungen durch Gesches Krankheit“, so der Witwer. Sobald sie fragen, „Wie war sie denn so?“, wolle er sich das Hörbuch mit ihnen zusammen anhören. Er sei sehr dankbar für dieses besondere Abschiedsgeschenk seiner Frau.

 

 

 

 

 

 

 

Artikel aus der Ausgabe:

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Autor:in
Yasemin Ergin
freie Journalistin

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