Lotto King Karl :
„Man kann nicht ewig Karneval machen“

Unglaublich, aber wahr: Lotto King Karl hat in der Gelehrtenschule des Johanneums Abitur gemacht. Foto: Patrick Ludolph

Nach sechs Jahren bringt Lotto King Karl wieder ein Album raus: 360 Grad. Bei einer Autofahrt durch Hamburg spricht der Musiker über Armut, Misserfolg, Fairness und Party.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Es regnet wie aus Kübeln. Und Lotto King Karl findet keinen Parkplatz an der Steinstraße. Also reden wir in seinem Volvo Geländewagen. Eine kleine Stadtrundfahrt mit dem Kult-Musiker, Moderator und HSV-Stadionsprecher.

Einen Moment später sind wir schon Höhe Speersort; früher hat Lotto hier bei Radio Hamburg moderiert. Er fährt unvorstellbar umsichtig. Das ist eine Überraschung, weil er früher so hibbelig und überdreht sein konnte. „Das ist die Altersmilde“, sagt der 50-Jährige und grinst breit.

Sechs Jahre ist es her, dass er sein letztes Album rausbrachte. Eine lange Zeit für einen, der davor in 22 Jahren insgesamt zwölf Platten gemacht hat. Es hat wohl „Höhen und Tiefen gegeben“, sagt Lotto. Er war viel in der ganzen Welt unterwegs, hat zwei Jahre lang mehr in London als in Hamburg gelebt, und auch sonst ist viel passiert. Einige seiner Musikerkollegen sind umgezogen, haben Familie gegründet – und enge Wegbegleiter sind gestorben. Aber jetzt ist es so weit: Sein Album „360 Grad“ ist fertig – und Lotto & die Barmbek Dream Boys stehen im Mai auf der Stadtparkbühne.

Und immer noch hören sich die Songs wie ein Ausschnitt aus Lottos Leben an. Hamburg ist immer noch seine Perle. Wir fahren gerade vorbei am Michel, den er in seinem Song „Nichts ist so schön wie hier“ so heimwehstark besingt. Lokalpatriot war er immer, jetzt kommt hinzu, dass er viel unterwegs ist in den Städten der Welt.

Armut ist immer schlimm. Egal wo.– Lotto King Karl

Natürlich lebt er hier wie dort gut. Aber er sieht die Armut überall. „In Rio ist die Stadt zwischen Slum und Favela manchmal nicht zu erkennen“, erzählt er. „Da sieht man auch ganz klar, wie wenig Chancen Menschen in einem Land haben, wenn die Bildungspolitik nicht so wichtig ist.“

Oder Washington. „Das muss man sich mal vorstellen: In der wichtigsten Hauptstadt der Welt beginnt gefühlt 100 Meter hinter dem Weißen Haus der Slum“, sagt der Barmbeker. Aber ob Afrika, Amerika, Lateinamerika oder Hamburg – relativieren will er die Armut nicht. „Armsein ist immer schlimm. Egal wo. Vielleicht hat man in Deutschland die ein oder andere Chance mehr, die man woanders nicht hat.“

Inzwischen haben wir längst die Willy-Brandt-Straße verlassen – fahren durch St. Pauli. Lotto liebt den Kiez, der kommt ja auch immer wieder in seinen Liedern vor. Über St. Pauli, den Klub, verliert er als echter HSVer allerdings kein Wort.

Selfie im Auto: Lotto King Karl mit Hinz&Kunzt Chefredakteurin Birgit Müller.

In den 70er-Jahren hat ihn sein Vater mal mit ins Volksparkstadion genommen – seitdem ist er Fan. Und zwar Hardcore. „Ich bin total für meinen Verein. Nicht weil ich das will, sondern weil es so ist. Es ist so eine Art von mir, ich bin so.“ So einen können auch das schlechteste Spiel und die zermürbenden Abstiegskämpfe nicht erschüttern. Schlechte Laune hat er nach miesen Spielen natürlich trotzdem. Manchmal tagelang.

Verlieren. Misserfolg. Kennt der Sohn eines Bankangestellten und einer Hausfrau, der an der Gelehrtenschule des Johanneum Abi gemacht hat, so was eigentlich auch persönlich?

„Natürlich, ich bin bei vier oder fünf Plattenfirmen rausgeflogen“, sagt er. Der Grund: mangelnder Erfolg. Damals begann gerade die Ära der Castingshows. „TicTacToe und die No Angels waren angesagt.“ Es gab also nur zwei Möglichkeiten: alles hinschmeißen oder sich selbstständig machen.

Im Nachhinein ist er froh darüber. „Die Chartsposition wurde immer höher, und wir haben in immer größeren Sälen gespielt.“ Nichtsdestotrotz: „Es ist hart, wenn du überall abgelehnt wirst.“ Dabei kann er mit Kritik gut leben. „Die ist ja auch oft berechtigt, aber manche Leute gehen mit der Machete aufs Karma los.“ Gerade in Zeiten der sozialen – oder wie er sagt– „manchmal asozialen“ – Medien. Er selbst versucht, Fairness und Respekt hochzuhalten, im Sport, bei Facebook und im wahren Leben. „Nur weil ich für einen Verein bin, bin ich nicht gegen die anderen.“

Manche Leute gehen mit der Machete aufs Karma los.– Lotto King Karl

Als junger Mensch habe er „noch etwas aggressivere Phasen gehabt. Aber Sport ist eben auch ein guter Übungsplatz für Respekt“, sagt er. „Man kann sich zwei Mal 45 Minuten lang alles Mögliche an den Kopf schmeißen und sich danach die Hand geben oder sogar zusammen ein Bier trinken.“

Selbst die Fans anderer Vereine nehmen das dem Stadionsprecher offenbar ab. Er hat auf Facebook etwas zu dem Bombenanschlag auf den Mannschaftsbus in Dortmund gepostet. Fast stolz ist er auf Kommentare wie: „Ich finde deine Musik scheiße, ich finde deinen Verein scheiße, aber danke, dass du das geschrieben hast.“

Lotto hat übrigens eine eigene Art, das soziale Medium zu nutzen: Er gratuliert oft Menschen zum Geburtstag oder bringt die in Erinnerung, die schon „in die Hall of Fame eingegangen sind“, wie er das nennt. „Finde ich halt kommunikativer, als ein Mettbrötchen zu posten.“

Regelmäßig erinnert er auf Facebook an Robert Enke. Sein Tod ist ihm besonders nahegegangen. Der ehemalige Torwart von Hannover 96 litt an Depressionen und warf sich 2009 vor einen Zug. „Keine 40 Stunden vorher habe ich ihm noch die Hand gedrückt“, erinnert er sich.

Gratulieren ist kommunikativer, als Mettbrötchen zu posten.– Lotto King Karl

Jetzt postet er an jedem Geburts- und Todestag. Robert Enkes Suizid hatte die gesamte Fußballwelt erschüttert. Trotzdem sagte damals ein Trainer: „In vier Wochen ist alles vergessen.“ Das wollte Lotto auf keinen Fall. „Man kann ja das kleine gallische Dorf sein, das so ein bisschen dagegen ankämpft“, sagt er. „Und immerhin sind es ein paar Zehntausend Leute, die das lesen.“

Jedes Jahr schreibt er wieder in der Art: „Trauert nicht nur um euren Torwart oder euer ehemaliges Idol, sondern denkt auch an die anderen: die Ersthelfer, die Zugführer, die Mitfahrer und die Angehörigen.“ Außerdem sei Depression immer noch tabuisiert, gerade im Sport. Deshalb seine Message: „Verurteilt die Menschen nicht und stellt sie nicht als Schwächlinge dar!“

Wir fahren gerade durch Rissen, wo die Sternenbrücke beheimatet ist, ein Kinderhospiz, für das Lotto schon oft gespendet hat und dessen Arbeit er bewundert. Irgendwie haben wir es mit dem Sterben. Denn jetzt geht es um „Hermann“. Der Song ist auch auf dem neuen Album, er ist allerdings nicht neu. Lotto spielt ihn seit dem Tod des langjährigen HSV-Kult-Masseurs Hermann Rieger im Jahr 2014. „Hermann war ein wirklich guter Freund der Band.“

Ein HSV-Mannschaftsbild mit Hermann hing schon in Lottos Jugendzimmer. Später als Stadionsprecher hat er ihn kennengelernt und sich mit ihm angefreundet. Und dann gab’s das Abschiedsspiel für Hermann, als er in Rente ging. „Hermann konnte einfach nicht loslassen. Er wollte und konnte den Platz nicht verlassen“, sagt Lotto. „Ich hab auf der Mittellinie auf meinen Freund Hermann gewartet, hab ihn in den Arm genommen und bin mit ihm vom Platz gegangen.“ Ein besonderer Moment, sagt Lotto.

Aber Wehmut hin oder her: Natürlich gibt’s auch Party auf dem Album: „Im Himmel gibt’s keinen Alkohol“, „Schnell brennendes Mädchen“, Titel, die für sich sprechen. Oder „100.000 Nächte“, eine Hommage an die früheren Discos und Klubs der Stadt. Passt, dass wir schon fast wieder in der Innenstadt sind. Lotto zeigt großzügig Richtung Gänsemarkt. „Dahinten waren das Cha Cha und das Madhouse.“ In der Altstadt war das Kontor und dort hinten die Disco Hall of Fame, wo er lange hinter dem Tresen stand und auch aufgelegt hat. Ist er denn selbst noch so ein Partylöwe?

„Überhaupt nicht“, sagt Lotto unumwunden. „Ich hab keine Zeit mehr. In die Disco zu gehen, ist für mich fast wie Arbeit. Aber mit 50 ist es auch mal gut. Irgendwann hast du jedes Bier an jeder Theke schon mal gesehen.“

Artikel aus der Ausgabe:

Der G20 die Stadt und ich

Vieles neu macht der Mai! Wir haben unserem Magazin eine optische Erfrischungskur verpasst: Unser Layout ist abwechslungsreicher und lockerer geworden. Bei den Themen sind wir gewohnt nah dran – etwa an Bernd und anderen Obdachlosen, die schon vor dem G20-Gipfel fürchten, dass sie von ihren Platten vertrieben werden sollen.

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Autor:in
Birgit Müller
Birgit Müller
Birgit Müller hat 1993 Hinz&Kunzt mitgegründet. Seit 1995 ist sie Chefredakteurin.

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