Aus der allerersten Hinz&Kunzt, die im November 1993 erschien: Das Tagebuch von Lisa über ihr Leben auf Platte. Sie war damals 30 Jahr alt und mit ihrem Mann Karl nach Hamburg gekommen, nachdem sie in Ostfriesland ihre Wohnung wegen Mietschulden verloren hatten.
Hamburg Hauptbahnhof. Ich bin schon reingelegt worden von einem Fixer, er wollte 6,15 Mark für eine Fahrkarte. Doch in der nächsten Minute fragte er schon eine andere Person. Suchten Zeltplatz und haben uns gründlich verfahren, aber gegen 22 Uhr haben wir durch Fragen und Zufall doch noch einen Platz gefunden. Und den letzten Platz bekommen.
16. August
Um 4.30 Uhr aufgestanden, mit unserer Bekannten zum Fischmarkt gegangen. Dort haben wir allerhand gesehen, es gibt da wahrhaftig alles zu kaufen. Am Ende vom Markt haben wir den Michel und den Elbtunnel und den Hafen genau besichtigt. Jetzt gehen wir schlafen.
18. August
Karl hatte den ersten ARbeitstag, leider Schicht von 12 bis 23 Uhr. Die Schicht hat er nicht ganz durchgehaltenm weil die Bananenkisten zum Sortieren zu schwer waren (circa 45 Kilo). Um 18.30 Uhr haben Putzfrauen ihn mit zurückgenommen. Ich habe mich auch nach Arbeit umgesehen, leider ohne Erfolg.
28. August
Unser Platz ist in der Stadt, man kann alle fünf Minuten Polizei und Krankenwagen hören. Hamburg ist sehr schön, aber verdammt teuer und laut. Hier gibt es fünfmal mehr Hunden und Katzen als Kinder. Wir haben etwas Heimweh.
17. September
Haben bei 101 (Tagesaufenthaltsstätte des Diakonischen Werkes in der Bundesstraße) Wäsche gewaschen und Abendbrot gegessen. Flaschen haben wir nur drei tück gefunden. Die werden morgen nach dem Frühstück weggebracht. Für Tabak werden wir noch mehr finden müssen.
18. September
Waren frühstücken. Als wir wieder rauskamen, waren die Flaschen mit Zelttasche geklaut. Haben gehört, daß auch anere beklaut worden sind. Das ist eine Schweinerei. Karl ist ganz schön sauer, und dann ist auch noch keine Post da und immer noch Zahnschmerzen.
19. September
Wir haben getrennt gefrühstückt, damit immer einer bei den Sachen ist. Karl hat jemanden kennengelernt mit Namen Peter, der will um 14 Uhr mit Astronautenkost wiederkommen. Alle, die wir bisher kennengelernt haben, helfen uns, so gut es geht. Peter brachte die Astronautenkost vorbei. Das schm eckt gut und hat alle Vitamine, die man braucht.
5. Oktober
Haben einen Hund geschenkt bekommen, er ist ganz schwarz und lieb. Gehorchen ist noch nicht seine Stärke, aber das wird er noch.
7. Oktober
Unser Hund Rocki ist den ganzen Tag rumgestreunt, aber er ist wieder da. Er weiß genau, wo er hingehört.
11. Oktober
Um 11 Uhr wurden wir gestört. Auf einmal sagte wer, hier istr die Polizei, aufmachen und rauskommen. Wir mußten unsere Papiere zeigen, das war alles in ordnung. Aber wir sollten bis Mittag die Olatte räumen, als wenn wir es geahnt hätten. Also alles zusammen räumen und eine neue Platte suchen. Walter wußte, wo wir eine finden konnten. Wir mußten sechs Stunden laufen in Richtung Blankense. Aber der Platz war nicht gut, also draußen im Schlafsack schlafen. Ausgerechnet in der Nacht mußte es natürlich frieren: 3 Grad minus.
26. Oktober
Sind nach Haus Bethlehem gefahren, haben gut gefrühstückt und Rocki hat auch was bekommen. Dann zu 101 gefahren, nach Post gucken, leider nichts da. Dann haben wir die Pfandflaschen weggebracht und sind bis 15 Uhr rumgefahren, um auf fünf mark Pfand zu kommen. Beim Herz As haben wir noch fünf volle Bier gefunden u nd alle Flaschen wieder weggebracht und sind nach Aldo hin zum einkaufen. Dann wollten wir uns ein bißchen ausruhen, denn das waren heute fast hundert Kilometer. Aber an der Bank lagen noch fünf Flaschen Sekt und ein paar Tomaten, alles schnell in der Tasche und zurück auf der Platte. Karl ist jetzt am Tomatenbrot machen und ich am schreiben. Wir danken Gott dafür, daß er an uns denkt und uns liebt.
27. Oktober
Haben zehn Mark gefunden und Rocki was zu Essen gekauft, er ißt alles außer Senf. Hatten heute so viel vor, aber Klaus getroffen, der einen ausgab. Das war das erste Mal, das wir in Hamburg in einer Kneipe gewesen sind. Um 23 Uhr waren wir wieder auf der Platte. Rocki war die ganze Zeit brav und lieb in der Kneipe. Als wir Pizza gegessen haben, hat er auch was bekommen.
29. Oktober
Sind zur Talstraße hin, um einen Mantel zu bekommen (nur für Frauen). Auf einmal kam Karl rein und holte mich raus. Rockis Besitzer waren da. Jemand hatte ihn vor vier Wochen aus dem Garten geklaut. Diese Leute konnten alles beweisen. Schweren Herzens haben wir Rcki abgegeben, da die auch noch Kinder haben, die sehr an ihm hängen. Das war ein Scheißtag. Aber dennoch: Das Geld von der AOK war da.
7. November
Karl hat heute vormittag auf dem Dom gearbetet, Walter und ich von 14.30 Uhr bis 24 Uhr. Als wir zur Platte zurückkamen, war alles in Flammen, der Gaskocher ist explodiert. Karl hat außer einem Schock nichts abbekommen, aber es ist alles verbrannt. Jetzt haben wir nur noch, was wir anhaben.
11. November
Walter hat durch Beziehung und mit zehn Mark von uns ein Vier-Mann-Zelt besorgt. Das wird aufgestellt, dabei regnet es den ganzen Tag. Karl und ich haben festgestellt, daß wir Läuse haben, das mußte noch dazu kommen. Wie es weiter geht, weiß keiner von uns.
Die Fortsetzung von Lisas Tagebuch wurde im Dezember 1993 in Hinz&Kunzt Nr.2 abgedruckt… und bald hier im Blog.