Warten auf die Laufkundschaft. Begegnungen im Gewerbegebiet zwischen Niendorf und Norderstedt
(aus Hinz&Kunzt 143/Januar 2005)
Irgendwann endet die Stadt. Die Häuser werden weniger, die Straßen breiter und gerader. Wiesen und Weiden tauchen auf, unterbrochen von Knicks und einzelnen Bäumen, die zu dieser Jahreszeit ihre kahlen Äste etwas ratlos den anfliegenden Jets in Richtung Fuhlsbüttel entgegenstrecken. Ein paar Meter noch die Ohechaussee entlang, und Hamburg-Niendorf endet, es geht über in Norderstedt.
Rechter Hand erstreckt sich ein Gebiet, das sich Nettelkrögen nennt. Kommt aus dem Niederdeutschen und heißt so viel wie entlegene Ecke landwirtschaftlich genutzten Bodens. Seit den frühen 80er-Jahren in ein Gewerbegebiet verwandelt, durchzogen von Speditionen und Werkstätten und mit Zulieferbetrieben bestückt. Ringsum parken Dreiachser, Fünfachser, Kleinlaster mit und ohne Aufbauten.
Stephan Kramer sieht das jeden Werktag, wenn er seinen Wagen auf dem Gelände der Dekra abstellt und in sein Büro geht. Schob er anfangs Dienst in der Prüfhalle, ist er mittlerweile Abteilungsleiter des Prüfwesens. So kennt er die Sorgen der Leute, die alle zwei Jahre vorbeikommen, auf dass ihr Fahrzeug (hoffentlich) eine Prüfplakette erhält. „So eine Hauptuntersuchung“, sagt Herr Kramer, „ist für viele Kunden eine echte Stresssituation.“ Und den Stress wollen sie dem Autobesitzer nehmen, auch wenn sie sein Gefährt so streng wie nötig unter die Lupe nehmen: „Es kann ja nicht im Interesse des Kunden sein, wir kleben ihm husch, husch die Plakette drauf, er freut sich, und auf der Autobahn patzt die Lenkung.“
Und wie geht’s einem so den ganzen Tag in einem Gewerbegebiet? Stephan Kramer stutzt. Das hat er sich noch nie überlegt. Aber stimmt schon: Die Straßen sind leer, niemand ist unterwegs. „Hier bleibt jeder bei seinem Gewerbe, man kennt die nicht, die nebenan arbeiten.“ Ehen werden hier also nicht geschlossen? „Nee“, sagt Kramer und wippt auf seinem Stuhl einmal vor und einmal zurück. Nicht, dass er wüsste.
Viele Flächen rundum stehen leer. An nahezu jedem dritten Gebäude hängt ein Schild, wen man anrufen muss, braucht man Gewerbeflächen ab 200 Quadratmetern aufwärts. Im einstöckigen Gebäude gegenüber mit der Fassade aus gekieseltem Waschbeton fragt keine Empfangsdame im Kostüm mehr, zu wem man möchte – dort findet jetzt jeden Sonntag Flohmarkt statt.
Stephan Kramer würde nie sagen, dass das Nettelkröger Gewerbegebiet mit Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Er sagt: „Hier ist viel Entwicklung.“ Und die ist auch nötig, blickt man auf die andere Seite der Ohechaussee. In den vergangenen zwei Jahren ist dort unter den Augen der Nettelkröger eine neue Ansiedlung aus dem Boden gestampft worden, die den aktuellen Trend bei randstäd-tischen Gewerbeflächen spiegelt. Angelockt von einem übersichtlichen Parkplatz, fährt man vor gläserne Hallen, die eher an ein Einkaufszentrum erinnern denn an ein Gewerbegebiet. Vorhanden ist auch eine Bäckerei mit Café, und seine Kinder kann man in fachkundige Hände geben, will man sie zum Beispiel bei der Tapetenauswahl im Baumarkt nicht dabeihaben. „Das wirkt wie aus einem Guss“, sagt Kramer anerkennend, „denn die machen Exklusivvermarktung; die bieten den Firmen Alleinstel-lungsmerkmale.“ Ein Autohaus und nicht drei. Ein Baustoff-handel und nicht zwei. „Man braucht heute Laufkundschaft“, so Kramer mit Nachdruck, „und die haben wir hier nicht.“ Und deswegen werden sie sich langfristig etwas einfallen lassen müssen. Kramer sagt: „Wir wollen ja, dass die Leute zu uns kommen und nicht zum TÜV.“
Dass man sich seine Kundschaft hart erarbeiten muss, beschäftigt auch Dimitrios Papageorgiou, der von der Insel Lesbos stammt und in Athen lange das „Deutsche Bierhaus Zille Milieu“ führte. Seit vier Monaten betreibt er das Restaurant „Zum Griechen“ am südlichen Ende des Gebietes; etwas versteckt in einer Kehre. Vier Besitzer haben sich vor ihm hier versucht, alle sind sie gescheitert. Unbedingt sollte hier ein Restaurant sein, da war sich die Interessengemeinschaft der Gewerbe-treibenden einig. Schon wenn die Großeinkäufer der Warenhäuser ins angrenzende Mode- und Sportzentrum kommen; die wollen zwischen-durch etwas essen! Die kommen aber nur viermal im Jahr. Papageorgiou macht eine Pause und bläst leicht die Backen auf. Heißt: Davon kannst du nicht leben. Und auch die Mittagsgäste aus den umliegenden Betrieben dürften nicht reichen, wie sie nun zwischen seinem Lokal und dem rustikalen „Walli’s Eck-Casino“ pendeln. Also braucht es Abend- und Wochenendgäste. Es läuft ganz gut an. Ab und an gibt es abends griechische Livemusik. Das sei ja der Vorteil eines Restaurants in einem angeblich öden Gewerbegebiet: Man kann Krach machen ohne Ende, hat man doch keine Nachbarn, die die Polizei holen.
Für den kommenden Sommer hat er Großes vor. Er will draußen bis zu 150 Plätze anbieten. Eine griechische Oase soll hier entstehen – für Familien mit Kindern, die bekanntlich nicht lange stillsitzen. Er kennt sich da aus. Vier Kinder hat er mit seiner ersten Frau. Seine zweite ist mit dem für ihn fünften schwanger. Er schaut entspannt aus dem Fenster, vorbei an Containern und Zäunen, bis dahin wo Nettelkrögen endet und Weiden und Wiesen beginnen. Demnächst werden hier die Mädchen auf ihren Ponys vorbeireiten, die nach der Schule von dort kommen, wo die Stadt wieder Stadt ist; wo es wieder echte Häuser gibt mit Gardinen vor den Fenstern und jemanden, der die Kinder ruft, wenn das Abendessen fertig ist.