Für „10° Kunst: Wilhelmsburger Freitag“ porträtiert die englische Künstlerin 163 Menschen, die in einer Ausgabe des örtlichen Wochenblatts genannt wurden
(aus Hinz&Kunzt 175/September 2007)
Eins liebt Lenka Clayton besonders an ihrer Arbeit: „Dass ich fremde Menschen ansprechen und ihnen Fragen stellen kann, die man normalerweise nicht stellt“, sagt die 30-jährige Künstlerin und Dokumentarfilmerin. „Diese Grenzen zu überschreiten finde ich total aufregend.“ Ihrer Lieblingstätigkeit geht die Engländerin bei ihrem neuesten Projekt in Wilhelmsburg nach: Sie porträtiert 163 Menschen, die in einer Februar-Ausgabe des Wilhelmsburger Wochenblattes namentlich genannt wurden.
Ob Bürgermeister Ole von Beust oder ein Wilhelmsburger Sportler, ob Schauspieler Hugh Grant oder ein Rechtsanwalt, ob die Hinterbliebenen, die eine Traueranzeige aufgegeben haben, oder Günter, der einen Partner sucht – Lenka Clayton und ihre Assistentinnen versuchten alle zu erreichen. Insgesamt 329 Menschen waren das, und immerhin gelang es ihr und ihrem Team, 163 vor die Kamera zu bekommen. (Ob auch Hugh Grant dabei ist, wird an dieser Stelle nicht verraten.)
Lenka Claytons Ziel ist es, „die Zufälligkeit deutlich zu machen, wie manchmal eine Gemeinschaft entsteht, die durch nichts zusammengehalten wird als durch ein und dieselbe Zeitung, die wiederum schon veraltet ist“.
Die Fotos strahlen etwas aus, was eigentlich gar nicht zusammenpasst: eine merkwürdige Nähe und gleichzeitig etwas merkwürdig Gekünsteltes. „Was haben Sie gerade gemacht, kurz bevor ich gekommen bin?“, hatte die Künstlerin ihre „Modelle“ gefragt. Die Menschen ahmten nach, was sie vorher – ganz natürlich – getan haben, und Lenka Clayton drückte auf den Auslöser. Manchmal wirkt das ganz schön intim, wie das Bild der Frau, die in ihrem Schlafzimmer sitzt, mit dem Rücken zum Betrachter, und sich schminkt.
Natürlich sieht man nicht, was die Künstlerin alles erlebt hat bei den Treffen: Wie wenig beispielsweise die Menschen, die eine Traueranzeige aufgegeben haben, noch Monate später den Tod ihres Angehörigen verwunden haben. Oder anrührend: Ein Pfarrer sitzt auf der Kirchenbank und stimmt ein Lied an. „Ein Beerdigungslied, das mir richtig unter die Haut ging“, sagt Lenka Clayton.
Vielleicht erinnert man den Namen Lenka Clayton nicht unbedingt, möglicherweise aber eine ihrer Arbeiten, die 2006 in der Kunsthalle zu sehen war. Eine Videoinstallation: Lenka Clayton hatte eine Rede von US-Präsident George W. Bush Wort für Wort, Schnitt für Schnitt auseinandergenommen und die Wörter nicht dem Sinn nach, sondern in alphabetischer Reihenfolge wieder zusammengesetzt.
Heraus kam ein erschreckend witziger Videosalat, der unter anderem enthüllt, mit welchen Worten und Gesten, mit welcher Sprachmodulation der Präsident nach dem 11. September 2001 die Welt auf den bevorstehenden Krieg einschwört. So oft benutzt er beispielsweise „America“, dass man unwillkürlich lachen muss. Lenka Clayton war von der Rede deswegen so fasziniert, weil sie „um die 4100 Wörter umfasst, aber wir nur noch drei von ihnen erinnern: Achse des Bösen“.
„Qaeda Quality Question Quickly Quickly Quiet“ – so heißt das Stück – wurde der Künstlerin damals förmlich aus den Händen gerissen und machte seinen Weg um die ganze Welt, wurde sogar in den USA gezeigt.
Viel Ehr’ hat’s gegeben, aber reich ist sie davon nicht geworden. Vor ein paar Jahren flüchtete sie aus dem teuren London und zog für vier Jahre nach Berlin. „Die Kunstszene dort ist aufregend, und die Mieten sind im Vergleich zu London richtig billig.“
Wieder zurück in England absolvierte sie noch ein Dokumentarfilm-Studium und fuhr mit ihrem Freund in einem Wohnmobil durch die Gegend – auf der Suche nach interessanten Persönlichkeiten. Und wieder tobt sie ihren Ordnungsfimmel filmisch aus. Mal ordnet sie die Menschen nach Alter: von eins bis 100 – und jeder und jede darf mal auf eine kleine Trommel hauen. Mal sind es Paare, die sie nach der Dauer ihrer Beziehung ordnet. Spannend, wie viel man in Sekundenschnelle über Menschen erfährt, je nachdem, wie sie zusammenstehen, wie sie sich ansehen, wie der andere schaut, wenn der Partner oder die Partnerin spricht.
Spannend wird auch Lenka Claytons Wilhelmsburger Ausstellung. 163 Menschen hat sie bisher porträtiert. Aber nach der Ausstellung will sie weitermachen.