In der Hamburger Neustadt finden ehemalige Seeleute, Hafenarbeiter und andere Alleinstehende seit mehr als 100 Jahren Gemeinschaft und ein Zuhause. Ein Ortsbesuch im Ledigenheim.
Im Aufenthaltsraum des Ledigenheims, in dem die Farbe von den Wänden blättert und notdürftig verlegte Kabel aus dem Putz herausschauen, sitzt Ende April eine zusammengewürfelte Gruppe bei Kaffee und Saftschorle. Da ist Michael Gerdes, ein großer Mann mit gebückter Haltung und wachen Augen, der mal obdachlos war und seit 19 Jahren ein Zimmer hier hat. Der etwas verloren wirkende Nachbar Peter Krautkrämer, für den das Ledigenheim zur Anlaufstelle während einer Krise wurde. Die alte Frau Bieber, die gegenüber aufwuchs und deren verstorbener Ehemann einst hier wohnte. Und Jade Jacobs und Antje Block, zwei ehemalige Designer:innen Mitte 40, die das Haus leiten. Eine junge Nachbarin steckt den Kopf zur Tür rein, begrüßt alle lautstark und quetscht sich mit an den Tisch. „Willkommen in unserem alltäglichen Wahnsinn“, sagt Jade Jacobs trocken.
Er und seine Mitstreiterin Antje Block sind ein zentraler Teil der besonderen Gemeinschaft rund um das historische Männerwohnheim, in dem unter anderem ehemalige Seeleute, Hafenarbeiter und Studenten aus aktuell 17 Nationen zusammenleben. 2007 mieteten die beiden den Raum im Erdgeschoss an, um ihn als Arbeitsraum zu nutzen. „Wir kamen ungewollt als Gentrifizierer und wussten nichts über das Ledigenheim“, sagt Jacobs, „und dann haben wir gemerkt, dass wir hier eigentlich im Wohnzimmer der Männer sitzen.“
„Ein Ort von leben und leben lassen“
Jade Jacobs
Michael Gerdes, der zwei Jahre zuvor ein Zimmer im Haus ergattert hatte, erinnert sich noch gut daran, wie die „Jungspunde“ hier auftauchten. „Ich konnte mit ihnen erst nichts anfangen“, sagt er, „man kannte sich ja noch nicht richtig.“ Wenige Jahre später kämpften der ehemalige Schlosser und die beiden Kreativen gemeinsam für den Erhalt des Ledigenheims.
Das Gebäude aus dunkelrotem Backstein, wenige 100 Meter vom Hafen entfernt, wurde 1913 vom Hamburger Bauverein errichtet, um alleinstehenden Arbeitern und Seeleuten eine bezahlbare Bleibe in der Innenstadt zu bieten. 112 möblierte, acht Quadratmeter große Zimmer, dazu Gemeinschaftsräume wie Küche, Speisesaal und eine Bibliothek. Dienstleistungen wie Reinigung und Wäschedienst waren inbegriffen. Eine auch aus heutiger Sicht moderne Wohnform, wie Jade Jacobs findet: „Arbeiter aus der ganzen Welt kamen nach Hamburg. Das Haus half ihnen dabei, sich in die Stadtgesellschaft zu integrieren.“
Das Besondere an dem Gebäude war zur Zeit seiner Entstehung auch die repräsentative Architektur, die den hier lebenden Männern bürgerliches Ambiente bot: Backsteinornamente an den Außenfassaden, holzgetäfelte Wände im Gemeinschaftssaal, ein Treppenhaus mit kunstvoll geschmiedetem Geländer und edlem Holzhandlauf. Selbst die Gemeinschaftsbäder auf jedem Stockwerk waren liebevoll gestaltet, mit maritimen Wandmalereien, von denen heute nur noch Reste übrig sind. Die winzigen Einzelzimmer waren schlicht, aber hochwertig möbliert.
Das Haus überstand zwei Weltkriege und war jahrzehntelang Heimat und Solidargemeinschaft für die hier lebenden Männer. Doch ab Anfang der 1980er-Jahre ging es bergab. Der Bauverein begann an allen Ecken zu sparen, hielt das Gebäude nur noch notdürftig in Schuss. Das Haus wurde mehr und mehr zur Notlösung für Marginalisierte und zum Spekulationsobjekt. 2009 kaufte ein dänischer Investor das Gebäude und wollte attraktive Singlewohnungen aus den Zimmern machen. Doch der Bezirk lehnte die Umbaupläne auf Basis der sozialen Erhaltungsverordnung ab – und Jacobs und Block kam eine Idee: Gemeinsam mit Michael Gerdes und anderen Bewohnern starteten sie eine Initiative. Sie gründeten eine Stiftung, sammelten Spenden, organisierten monatliche Benefiz-Lesungen mit Hamburger Autor:innen und nahmen 2017 einen Kredit auf, um das Haus für 2,1 Millionen Euro zu kaufen und es wieder in die Gemeinnützigkeit zu überführen. „Die Rettungsaktion hat sehr viele Menschen zusammengeschweißt“, sagt Antje Block. Sie und Jacobs seien dann einfach drangeblieben. Jetzt sind sie immerhin nur noch sechs statt sieben Tage die Woche hier und bereiten die aufwendigen Sanierungsarbeiten vor, die das marode Haus in alter Schönheit erstrahlen lassen und es wieder zu dem zukunftsweisenden Wohnprojekt machen sollen, das es vor über 100 Jahren schon einmal war.
Dass sie es damals nicht mit einem „bösen Investor“ zu tun hatten, wie beide betonen, gehört zu den Besonderheiten dieser Geschichte. Stattdessen wurde der zum wertvollen Unterstützer, spendete 25.000 Euro an die Stiftung. Und noch ein Punkt ist Block und Jacobs wichtig: Nicht sie alleine hätten die Idee gehabt, das Haus zu retten, sondern auch die Bewohner, allen voran Michael Gerdes. „Im Grunde hat er uns animiert und mitgerissen“, sagt Jacobs. Der Angesprochene lächelt stolz. Der Kampf um das Ledigenheim hängt für ihn auch mit der Überwindung seiner Sucht zusammen. „Ich habe richtig viel getrunken damals“, sagt er. Dann nahm er alle Kraft zusammen und hörte auf. Weil er sich sonst totgesoffen hätte, wie er sagt. Und weil er sich hier gebraucht fühlte: „Ich wollte das irgendwie noch miterleben, was aus dem Haus wird.“
Nach dem Kaffee führen Gerdes und Jacobs durchs Haus. Vier Wohnetagen mit langen Fluren, von denen Zimmer, Bäder und Küchen abgehen. Nur die Hälfte der Zimmer ist aktuell vermietet, da wegen der anstehenden Sanierung frei werdende Zimmer nicht nachbesetzt werden können. Die Männer, die hier aktuell wohnen, sind zum Teil schon seit Jahrzehnten hier. So wie Alfred Mauler, der auf der zweiten Etage gerade das leere Zimmer inspiziert, in das er bald wechseln soll. Seit 1982 sei er hier, seit es ihn beruflich nach Hamburg verschlagen habe, erzählt der gebürtige Österreicher. Jade Jacobs klopft an ein paar weitere Türen. Ein älterer Mann, circa Ende 70, macht auf. Er hat Kopfhörer auf den Ohren und wirkt verschlafen, auf dem Fernseher am Kopfende des Bettes, das den schmalen Raum fast ausfüllt, läuft eine Doku über das alte Ägypten. Peter Amtmann heißt er, war früher Seemann und zog vor 35 Jahren ein. Ein paar Türen weiter wohnt Herr Reichel, ganz in Schwarz, Glatze, freundliches Lächeln. Er war mal Haus-Friseur im Hotel Vier Jahreszeiten und wohnt seit 1986 hier. Jeder Zentimeter seines winzigen Zimmers ist mit Kunst verhängt, darunter gerahmte Drucke der Mona Lisa und anderer Meisterwerke. Er fühle sich wohl hier, sagt er. Von der Rettungsaktion damals habe er gar nicht viel mitbekommen.
Die Beziehungen zwischen den Bewohnern und ihnen sowie den Männern untereinander seien lose, aber verbindlich, sagt Antje Block. Wenn einer Hilfe brauche, sei immer jemand zur Stelle. Das Ledigenheim sei ein Ort „von leben und leben lassen“, so Jacobs. Gerade die langjährigen Bewohner wollten meist ihre Ruhe haben, aber: „Sobald einer sich räuspert oder nicht aus dem Zimmer kommt, wird nach ihm geschaut.“ Als Michael Gerdes mal nach einem Kollaps ins Krankenhaus eingeliefert wurde, habe mitten in der Nacht das Telefon geklingelt. Ob der in Lebensgefahr schwebende Patient intubiert werden solle, wollten die Ärzte wissen. Jacobs und Block seien von ihm als Vertrauenspersonen hinterlegt. „Das hätten wir natürlich gern vorher gewusst“, sagt Antje Block. Zum Glück habe Gerdes es geschafft, denn sie brauchten ihn hier ja noch.
Die beiden Stiftungsgründer träumen davon, im Zuge der Sanierung die einstigen Gemeinschaftsräume wieder aufleben zu lassen. Die Pförtnerloge, besetzt mit einem „Nachbarn“, der alle Bewohner kenne, und auch den Lesesaal, der Teil des Ursprungskonzepts war. Die alten Ideen seien gut, sie müssten sich gar nicht viel Neues ausdenken, sagt Jacobs. Ihre alten Jobs haben er und Block längst an den Nagel gehängt, das Ledigenheim erfordere ihre ganze Aufmerksamkeit. Es sei eine Lebensentscheidung, sagt Antje Block. Wie lange sie das hier noch machen werden, darüber denken sie nicht nach, ergänzt Jacobs. Er hoffe nur, dass sie dann noch jung genug sein werden, um noch mal was anderes in Angriff nehmen zu können.