Kann man von 351 Euro im Monat mehr als überleben? Hinz&Kunzt-Volontärin Beatrice Blank hat es im Hartz-IV-Selbstversuch probiert
(aus Hinz&Kunzt 206/April 2010)
Ich soll einen Monat von dem leben, was jemandem zusteht, der Arbeitslosengeld II bezieht. Den Selbstversuch mache ich nicht alleine – 20 Menschen haben sich am Aschermittwoch in der Kirchengemeinde Winterhude-Uhlenhorst getroffen, um das Projekt „Leben mit Hartz IV“ zu starten. Die Pastorin sagt, dass Christen sich immer wieder neu die Frage stellt: „Woran leiden Menschen heute?“ In Deutschland leben 4,7 Millionen Menschen von Hartz IV, dazu kommen 1,6 Millionen Kinder, die Sozialgeld beziehen. Beim Gruppentreffen bekommen wir eine Tabelle. Die hat ein Profi für uns vorbereitet: Heinz Rathke, der echt Hartz-IV-Empfänger ist und von 351 Euro im Monat* lebt. Da steht drin, welche Beträge des Hartz-IV-Satzes wofür vorgesehen sind.
Ich ziehe von 351 Euro die vorgesehenen Beträge für Strom, Telefon und Fahrkarten ab (tatsächlich brauche ich viel mehr als da veranschlagt ist), außerdem die Kosten für mein Handy und den Beitrag für den Sportverein. Mir bleiben 248,38 Euro pro Monat, das sind 8,15 Euro am Tag. „Mein Beileid“, sagt eine Freundin, als ich ihr davon erzähle.
Foto: Benne Ochs
Tag 1: Schwatzend machen meine Kollegen sich auf den Weg in die Mittagspause. „Pizza oder Pasta?“ Ich halte meine Käsestulle hoch und lehne mich im Schreibtischstuhl zurück. Ich nehm´s sportlich. Ich wollte dieses Experiment machen, und jetzt werde ich es auch allen zeigen.
Kassensturz: Käse, Brot und Obst hatte ich noch Zuhause. Das Projekt erlaubt, Vorräte aufzubrauchen. Deswegen: keine Ausgaben, Hartz-IV-Konto voll.
Stimmung: Zuversichtlich. Ich krieg das schon hin.
Tag 2: Wollte heute unbedingt mit den anderen ins Café gehen. Habe 2,90 Euro für ein belegtes Brötchen ausgegeben und mich schon geärgert, als ich darauf herum kaute.
Auf dem Nachhauseweg habe ich ein paar Dinge im Supermarkt besorgt – wirklich nur ein paar Kleinigkeiten. 7,33 Euro wollte die Kassiererin dafür haben. Mittagspause macht keinen Spaß, Einkaufen macht keinen Spaß.
Stimmung: Genervt. Nichts macht Spaß.
Tag 3: Wache mit Halsschmerzen auf: ein ernstzunehmender Zwischenfall. Das gern gesagte „Ich kann es mir nicht leisten krank zu werden“ meine ich heute ganz wörtlich. Ich gehe trotzdem in die Apotheke: Brause- und Halstabletten, Hustensaft und Kopfschmerztabletten kosten mich knapp 25 Euro. So einen Betrag gebe ich nie ohne mit der Wimper zu zucken aus, aber jetzt ist es nicht einfach nur schade drum, sondern könnte in drei Wochen versorgungstechnisch zur Katastrophe werden. Hartz-IV-Empfänger zahlen – wie alle anderen – Medikamente, die nicht verschreibungspflichtig sind, aus eigener Tasche.
Kassensturz: Nicht nur der Abstecher in die Apotheke, auch der bevorstehende Geburtstag meiner Freundin Julia reißen einen regelrechten Krater in meinen Geldbeutel. Ich habe gut 30 Euro und damit beinahe das Budget von vier Tagen ausgegeben.
Stimmung: Verschnupft.
Tag 4: Ein arbeitsamer Tag. 4,50 Euro gebe ich fürs Mittagessen aus. Abends soll meine Freundin Britta zu Besuch kommen. Das ist schon lange geplant und macht mir ein bisschen Sorgen. Ich möchte ihr mit meiner Sparsamkeit nicht ihren Kurzurlaub in Hamburg verderben. Sie weiß natürlich von meinem Selbstversuch und findet das richtig gut. Nur nicht so gut, dass sie für die nächsten vier Tage mit einsteigen will. Als ich sie vom Bahnhof abhole, grinst sie und sagt: „Ich bin total erschöpft, wir machen es uns heute Zuhause gemütlich.“ Wir kochen selbst und sie bezahlt sogar den Einkauf. Das ist selbstverständlich für sie. Für mich ist es eigentlich selbstverständlich, dass mein Kühlschrank einigermaßen gefüllt ist, wenn ich Besuch bekommen. Aber in den ersten Hartz-IV-Tagen habe ich ihn ziemlich geplündert.
Ich bin erleichtert und froh, so eine gute Freundin zu haben. Gleichzeitig frage ich mich: Wie oft würde das so funktionieren? Wenn ich nicht nur einen Monat, sondern ein halbes Jahr oder sogar ein paar Jahre von Hartz IV leben müsste, wie oft würden mir Freunde die Vorratsschränke füllen?
Stimmung: Nachdenklich. Sind Freunde dazu da, dir Brot und Käse zu bringen?
Tag 5: Ich werde trotzig. Mein Husten ist so gut wie weg und ich verkneife mir das Rauchen nicht länger. Eine Schachtel Zigaretten kostet ein halbes Tagesbudget. Abends bin ich mit Freunden verabredet, und ich will nicht der Spielverderber sein. Fürs Essen und einen Cocktail in der Happy Hour bin ich zwölf Euro los. Weil es ein schöner Abend ist, habe ich keine Lust, mir ein schlechtes Gewissen einzureden und denke nicht weiter drüber nach.
Stimmung: Ausgelassen. Was soll´s, wenn ich mir mal einen schönen Abend gönne.
Tag 6: Ich bin dran, fürs Frühstück mit einer Freundin Brötchen zu holen: 2,15 Euro. Beim Einkaufsbummel in der Innenstadt fällt es mir leichter als erwartet, wirklich nur zu gucken. Sonst fahre ich ja nur in die Stadt, um mir etwas zu kaufen. Beim Kaffeetrinken zwischendurch bestelle ich mir Filterkaffee anstelle des fast doppelt so teuren Latte Macchiato. Schmeckt mir sowieso besser. Wirklich, das sage ich nicht nur so.
Stimmung: Höchst zufrieden. Habe den Schaufensterbummel für mich entdeckt.
Tag 7: Es ist furchtbar windig und kalt. Verabredet zu einer Ausstellung in den Deichtorhallen. Als ich den Eintrittspreis sehe, muss ich kurz schlucken: 7 Euro. Ohne groß drüber zu reden, zahlt meine Freundin für uns beide.
Kassensturz: Habe das Wochenende finanziell nicht ohne Blessuren überstanden. Es war schön, aber auch anstrengend und ich habe heute keine Lust mehr, Zahlen einzutragen und mit dem Taschenrechner zu addieren und von 8,15 abzuziehen. Was soll´s.
Stimmung: Resigniert. Was soll die ganze Anstrengung?
Tag 8: Irgendwie vergehen die Tage. Heute ein paar günstige Einkäufe fürs Abendessen. Der Verzicht auf absolut alles, was nicht unbedingt nötig ist, wird ein bisschen zur Gewohnheit. Macht aber deswegen nicht mehr Spaß.
Kassensturz: Immer noch keine Lust zum Rechnen. Mein Bauch sagt mir, dass die Abrechnung der ersten Woche vernichtend ausfallen wird.
Stimmung: Müde. Ich bin´s müde.
Tag 9: Habe abends eine Einladung, zu der ich eine Flasche Sekt mitbringen soll. Ich kämpfe mit mir. Ich könnte natürlich sagen: So und so, Hartz IV, wenig Geld, ich würde diesmal lieber nichts mitbringen… Dagegen sträubt sich aber alles in mir. Das kommt mir nicht sparsam vor, sondern geizig. Ich weiß doch, wie ich das selber finde, wenn jeder etwas beiträgt – nur einer nicht. Lieber bezahle ich mit einem leisen Seufzer die paar Euro für eine Flasche Sekt, als weiter darüber nachzudenken. „Die paar Euro“ – das habe ich jetzt schon länger nicht mehr gedacht. Die gibt es eigentlich nicht mehr, die nachlässig ausgegebenen ist-doch-egal-ob-ich-die-habe-oder-nicht „paar Euro“. Ich bin für heute eigentlich ganz gut im Rennen. Ich nehme mittlerweile täglich den Kampf mit der Obergrenze 8,15 Euro auf.
Nun habe ich noch ein bisschen Zeit vor der Party. Langeweile. Muße. Wie auch immer. Schließlich stehe ich in der Buchhandlung und das hätte nicht passieren dürfen. Es gibt eine Sache, für die ich schon immer bedenkenlos Geld ausgegeben habe: Bücher. Auch viel Geld. Auch Geld, das ich in dem Moment vielleicht gar nicht hatte. Bücher sind für mich das Wertvollste, aber kein Luxus. Sie sind notwendig und mir teuer. Ich finde, ich habe ein Recht auf Bücher. Mit zwei Taschenbüchern unterm Arm verlasse ich den Laden: 18,90 Euro. Dafür darf ich jetzt zweieinhalb Tage nichts: Nichts essen, nicht rauchen, nicht Bahn fahren. Nur Leitungswasser trinken und lesen.
Selbst mit diesem Wissen, und im Hinterkopf der Gedanke, dass ich das nicht für immer, sondern nur noch drei Wochen aushalten muss, konnte ich mir die Bücher nicht verkneifen.
Kassensturz: Katastrophal – insgesamt 26,98 Euro habe ich heute ausgegeben. Wie soll ich das wieder reinholen?
Stimmung: Frustriert. Wie nach einem schlimmen Rückfall. Fühlt sich an, wie zwei Tafeln Schokolade gegessen haben, obwohl man gerade Diät macht. Nehme mir vor, den alten Diät-Tipp zu befolgen: Nach einem Rückschlag nicht aufgeben, sondern weiter machen.
Tag 10: Frühstücke Automatenkaffee und ein trockenes Brötchen. Gut für den Geldbeutel, schlecht für den Start in den Tag. Zum Mittagstisch für 4,50 bestelle ich kein Getränk. Nachmittags eine SMS von meiner Freundin Julia. Ihren Geburtstag heute wollte sie bei sich Zuhause feiern. Jetzt schreibt sie: „Keine Zeit zum Einkaufen. Treffen uns im Restaurant.“ Ich antworte: „Super. Das wird bestimmt schön.“ Ich denke: „Kann ich das Geschenk noch umtauschen?“ Ich will nicht geizig sein. Am Geburtstag meiner Freundin an einem Mineralwasser zu nippeln, kommt mir richtig blöd vor. Also mache ich das auch nicht. Meine Freunde können doch nichts dafür, dass ich diesen Versuch unbedingt machen muss.
Kassensturz: Vergessen wir´s.
Stimmung: Wie kurz vorm Durchbruch bei der Psychotherapie. Selbstironisch freue ich mich fast ein bisschen, gescheitert zu sein. Ich hab´s ja gleich gesagt! Ich wusste ja, mit mir stimmt was nicht.
Tag 11: Ein Abschiedsessen mit den Kollegen steht an. Wir wollen uns in einer Tapas-Bar treffen. Ich weigere mich, mich da rauszuhalten. Mich auszuschließen, indem ich nichts bestelle, irgendetwas von „Ich habe schon gegessen“ murmele oder sogar überhaupt nicht zu kommen. Ich bin der Stimmung, mir etwas zu gönnen. Ich weiß, dass ich als Hartz-IV-Empfänger das bitter bereuen werde.
Kassensturz: Der Abend in der Tapas-Bar kostet 18 Euro. Trinkgeld gebe ich auch noch. Ans schlechte Gewissen habe ich mich gewohnt.
Tag 12 bis Tag 14: Über´s Wochenende fahre ich zu einer Fortbildung nach Scharbeutz an der Ostsee. Ich bin etwas zu früh dort und genieße die Zeit allein. Strandspaziergänge sind umsonst – noch. Mit dem Beginn der Saison am 1. Mai wird Kurtaxe fällig. Die bleibt mir jetzt, im März, erspart. Für 15 Euro Eigenbeteiligung übernachte ich in der Jugendherberge und bekomme drei Mahlzeiten am Tag. Das ist definitiv weniger als ich sonst am Wochenende ausgebe.
Kassensturz: Das Wochenende ist ein Segen für mein Budget. Habe gar keine Gelegenheit, über die Eigenbeteiligung von 15 Euro hinaus noch etwas auszugeben.
Stimmung: Ich kann gerade gar nicht sagen, ob ich noch dabei bin. Zumindest erzähle ich am Wochenende keinem von dem Experiment, schreibe nichts auf und rechne nicht. Und eigentlich denke ich auch nicht dran. Das tut gut.
Tag 15: Die Hälfte der Zeit ist geschafft. Mein Kühlschrank ist komplett leer geräumt. Ich hab rein gar nichts mehr Zuhause und muss unbedingt einkaufen. Ich achte im Discounter, zu dem ich zwei Stationen mit dem Bus fahre, genau auf den Preis. Aber das tue ich eigentlich immer – auch schon vor der Hartz-IV-Zeit. Es ist eine Binsenweisheit, dass nicht der Lebensmitteleinkauf das teuerste ist, sondern das, was man als Sonstiges bezeichnet. Viel Sonstiges, muss ich ehrlich sagen, stand auf meinem Zettel diesen Monat nicht. Sowohl Putzmittel, als auch Shampoo, Duschgel, Toilettenpapier und was da so alles anfällt, habe ich Zuhause gehabt und auch für die Hartz -IV-Zeit nicht weg gesperrt. Der Discounter-Einkauf, obwohl das insgesamt gesehen absolut im Rahmen des Lebensmittelsatzes liegt, schlägt mit 27,33 zu Buche. Ich zahle sie bedenkenlos. Ist doch eh vorbei, oder?
Kassensturz: 27,33 Euro vom Tagessatz von 8,15 Euro macht ein Minus von 19,18 Euro. Ich habe also die nächsten 2,36 Tage kein Geld mehr zur Verfügung.
Stimmung: Als ob! Finde mich gerade selbst ein bisschen lächerlich.
Tag 16: Mittagessen mit meiner Chefin. Mein Experiment wird zum Thema. Sie bietet mir an, mich einzuladen. Aber das käme mir schäbig vor. So inkonsequent wie ich bisher war, brauche ich mich jetzt nicht durchzuschnorren. Viel zu oft habe ich meinen Tagessatz gesprengt. Zerknirscht erzähle ich beim Essen davon, wie es mir bisher ging. Meine Kollegen stacheln meinen Ehrgeiz an. „Versager“, sagt einer und hat Recht. Ich will aber kein Versager sein.
Den Rest des Tages drehen sich meine Gedanken darum, warum ich es nicht geschafft habe. Komme ich nicht klar in einer Gesellschaft, in der man von acht Euro am Tag leben können muss? Wie machen das die anderen? Ich denke nur noch an Geld. Warum ist Geld so wichtig? Ich habe es schon während des Studiums – in dieser Zeit lebte ich übrigens von weniger als 351 Euro – verabscheut, ständig über Geld nachzudenken. Seit meiner ersten Anstellung vor anderthalb Jahren genieße ich es, das nicht mehr ständig tun zu müssen. Mal fünfe gerade sein zu lassen. Ist das wirklich so ein Privileg?
Ich ziehe eine ehrliche Bilanz: Ausgegeben habe ich 214,95 Euro. Ich hätte ausgeben dürfen: 130,40 Euro. Mir bleiben für die restlichen zwei Wochen: 33,43 Euro.
Ich bin plötzlich unendlich traurig. Ich war undiszipliniert, aber ich habe nicht geprasst. Finde ich. Es gab ein paar Zwischenfälle (Erkältung, Einladung, Geburtstagsgeschenk)– aber ich habe nicht in Saus und Braus gelebt. Besonders viel Spaß hatte ich auch nicht, eigentlich habe ich die meiste Zeit an Geld gedacht.
Ich mache mir klar, dass jemand, der wirklich und echt und auf Dauer von Hartz IV leben muss, jetzt richtig schlecht da stünde: 33 Euro in der Tasche und noch 14 Tage, bis das nächste Geld kommt. Und wahrscheinlich keine Freunde mehr, die den Kühlschrank füllen oder ins Kino einladen. Keine Verwandten, die einen kleinen Schein über den Kaffeetisch schieben. Das ist jetzt spätestens der Punkt, an dem ich weiß: Es geht als Hartz-IV-Empfänger nicht darum, mit wenig zu leben, sondern überhaupt zu überleben.
Kassensturz: Es ist alles gesagt.
Stimmung: Ich bin ein Versager. Im Survival-of-the-fittest-Contest in unserer Hartz-IV-Gesellschaft gehöre ich anscheinend zu denen, die hinten runter fallen.
Tag 17: Ich will es jetzt doch unbedingt schaffen. Abends treffen mit der Gruppe. Es tut gut, nicht alleine da zu stehen. Einige sind zufrieden mit sich, andere eher zerknirscht, zu denen gehöre auch ich. Frau Zeuner und ein paar andere freuen sich an dem Experiment richtig. Sie haben etwas gelernt, sagen sie. Am Wochenende oder abends für den nächsten Tag vorzukochen. Es ist nicht nur sparsamer, sondern schmeckt auch besser als sich mittags ein belegtes Brötchen vom Bäcker reinzuschieben. Aber es ist natürlich nicht ganz umsonst: Es kostet Zeit und Mühe. Frau Zeuner schafft es sogar, weiterhin nur auf dem Wochenmarkt einzukaufen und so gut wie gar nicht in den Supermarkt zu gehen. Nur frischen Fisch, den sie so gerne mag, kann sie sich nicht mehr leisten. Julia geht der Versuch etwas mehr an die Substanz. Es verändert ihr Privatleben, eine ähnliche Erfahrung wie ich sie gemacht habe. Letztes Wochenende war sie mit Freunden im Fußballstadion. 11 Euro kostete die Karte. „Das ist doch nicht so viel, wenn man sich das mal leistet“, sagt Julia. Ein bisschen empört und auch ein bisschen hilflos. Wer von Hartz IV lebt, kann sich nichts leisten.
Als ich höre, wie auch die anderen kämpfen – manche schaffen es, manche nicht so gut – kriege ich neu Lust loszulegen. Zu Beginn hatte ich noch großzügig gesagt: „Es ist doch keine Schande, das nicht zu schaffen. Das ist doch dann auch eine Erkenntnis.“ Jetzt schäme ich mich.
Tag 18: Ich kaufe jetzt einfach nichts mehr. Zu meinen Freunden sage ich ständig: „Hab ich kein Geld für.“ Das ist okay, es ist ja bald vorbei. Meine Tagebucheinträge werden kürzer und bestehen eigentlich nur noch aus Zahlen. Es ist, als hätte jemand die Slow-Motion-Taste gedrückt. Arbeiten, nach Hause fahren, fernsehen, schlafen. Arbeiten, Käsebrot zu Mittag, telefonieren, schlafen. Wenigstens habe ich eine Arbeit. Ein richtig echter Hartz-IV-Empfänger hat ja gar nichts zu tun und trifft wahrscheinlich tagelang keine Kollegen. Er hat gar keine Kollegen! Trotz Job: Ich lebe ein Leben ohne Zwischenfälle. Es ist wirklich sehr günstig, nichts zu unternehmen. Wenn nichts passiert, kann es auch nichts kosten.
Ich langweile mich und finde alles sehr deprimierend. Das kann ja nicht das Leben sein. Es ist eine Sache, dass ich mich mal für zwei Wochen zurückziehe und in meinem Kämmerlein vor mich hinrechne, ein ganz anderer Schnack aber, monate- oder jahrelang so zu leben. Ich schrecke davor zurück, dieses Leben als Leid zu bezeichnen. Wie könnte ich den Alltag von fünf Millionen Menschen so bezeichnen? Das wäre arrogant und herablassend und würde den Menschen nicht gerecht, die sich mit diesem Existenzminimum durchschlagen. Doch lebenswert kann ich es beim besten Willen auch nicht finden.
Kassensturz: Ich bin natürlich schon längst knietief im imaginären Dispo, bringe die Woche aber für sich gesehen ganz gut rum: Discountereinkäufe und Abstecher zum Bäcker kosten mich in fünf Tagen 38,70 Euro.
Stimmung: Schicksalsergeben. Ich will es nur hinter mich bringen.
Tag 19 bis Tag 27: Die Langeweile ist Routine geworden. Ich bin schlecht gelaunt und habe Mitleid mit mir. In meinem Tagebuch stehen nur langweilige Zahlen. Mittagessen 3 Euro, Discounter 6,40 Euro, Bäcker 1,20 Euro, Zigaretten 3,60 Euro. Wer soll sich bloß für mein Leben interessieren? Ich interessiere mich ja selbst nicht mehr dafür. Für mich hat sich alles verändert, dieses Experiment hat mir – und dabei geht es nur vier Wochen – alle Freude, jeden Enthusiasmus genommen. Für mich hat sich alles verändert, aber das scheint die Welt da draußen nicht zu stören. Sie dreht sich weiter. Ich stehe still.
Tag 28, der letzte Tag des Experiments: Nach vielen ereignislosen Tagen, bin ich fertig, endlich fertig mit dem Selbstversuch. Für mehr als fünf Millionen Menschen, die von Hartz IV leben müssen, geht es aber weiter. In mir hat sich eine ganze Menge getan. Ich bin wütend und fühle mich hilflos.
Als wir uns zum Abschlussabend treffen, merke ich: Den anderen aus der Gruppe der Kirchengemeinde geht es auch so. Alle schimpfen. Alle finden es unmöglich. Wir schmieden Pläne, was man tun könnte. Eine Aktionsgruppe bilden, Geld sammeln und Unterschriften, Protestbriefe schreiben. Mal sehen, was daraus wird, wie lange die Energie reicht, wenn der Alltag wieder eingekehrt ist.
Als die Pastorin sagt „Unser Experiment ist am Ende, doch für einige geht der Versuch weiter“ und Heinz Rathke ansieht, nicken wir alle und versuchen, nicht zu betroffen dreinzuschauen. Heinz Rathke hat dieses ganze Projekt ins Rollen gebracht. Er bezieht Hartz IV „von Anfang an“. Er hat schon seit vielen Jahren keine Arbeit und wurde am 1.1.2005 zum Hartz-IV-Empfänger. Er hat nie verlangt, dass wir während des Experiments wirklich vom Hartz-IV-Satz leben. Ich erinnere mich gut an unser erstes Treffen: Heinz Rathke hatte Tabellen vorbereitet. Darin sollten wir täglich aufschreiben, wie hoch die Ausgaben waren und wie hoch die Differenz zum eigentlich Tagessatz. „Nur um mal klar zu machen, wie schnell man sich verschuldet.“
Ich dachte damals: Er denkt wohl nicht, dass wir das schaffen. Jetzt weiß ich: Das hat er ganz gut eingeschätzt. Ein echter Profi.
Text: Beatrice Blank
Foto: Benne Ochs