Steigende Mieten, weniger Einkaufsmöglichkeiten, mehr Hotels: Im Bahnhofsviertel kocht die Stimmung in der Bevölkerung. Weil der Traditionsbuchhändler Wohlers bald 4100 statt 1400 Euro Miete zahlen soll, regt sich Protest.
Als Kerstin Timmeschüler nach St. Georg gezogen ist, vor 25 Jahren, hat sie regelmäßig im Stadtteil protestiert. Für eine bessere Behandlung der Drogenabhängigen, dezentrale Angebote für sie und für betreute Spielplätze. Jeden Donnerstag gab es eine Demonstration. „Wir ärgern uns schon etwas, dass wir auf die Straße gegangen sind“, sagt Timmeschüler heute. Ihre Forderungen von damals sind mittlerweile umgesetzt, aber es gibt ein Problem, das vor 25 Jahren niemand vorher gesehen hat. „Jetzt sind wir schick, aber die Familien hier können sich jetzt nichts mehr leisten“, sagt die 53-jährige. „Früher sind die Familien wegen der Drogenkriminalität weggezogen, heute ziehen sie weg, weil sie keinen günstigen Wohnraum mehr kriegen.“ Auch die Veränderung der Einkaufsmöglichkeiten beklagt die Quartiersbewohnerin. Früher habe es viele Einzelhändler gegeben, die im Laufe der Jahre verschwunden seien. Heute gebe es nur noch Läden „für die, die viel Geld haben“.
Deswegen war Kerstin Timmeschüler am Mittwoch wieder demonstrieren. Zusammen mit mehreren hundert Menschen hat sie bei strömendem Regen gegen die Mieterhöhung für die Buchhandlung Wohlers in der Langen Reihe protestiert. Statt der bisherigen 1400 Euro im Monate will der Vermieter ab Jahreswechsel 4100 Euro haben, also fast drei Mal so viel. Für die Buchhandlung würde das das vorzeitige Ende bedeuten. „Dagegen muss sich nicht nur St. Georg wehren, dagegen muss sich ganz Hamburg wehren“, forderte Hamburgs Verdi-Chef Wolfgang Rose auf der Demonstration. Die Aufmerksamkeit der Presse jedenfalls hat die Buchhandlung jetzt schon, Buchhändler Robert Wohlers kann sich vor Kamerateams und Interviewanfragen gerade kaum retten. „Vielleicht bringt es ja was“, hofft er.
Viele Einzelhändler mussten in St. Georg bereits Platz machen für Ketten, hippe Cafés und Kneipen. Gleichzeitig fand ein Austausch großer Teile der Bevölkerung statt. „Die Bevölkerungsstruktur in St. Georg hat sich in den letzten 15 Jahren völlig verändert“, sagt der stellvertretende Leiter des Hamburger Mietvereins, Siegmund Chychla. In den 1980er Jahren machten sich erste Studenten-WGs im alten Arbeiterviertel breit, der Aufwertungsprozess begann. Gefördert mit Steuermitteln wurde das herunter gekommene Viertel lebenswerter gemacht. Mit einem Nebeneffekt: „Die, die nicht so viel Geld auf der Tasche hatten, mussten gehen“, sagte Chychla. Dieser Prozess setzt sich bis in die Gegenwart fort. „Die Mieten in St. Georg steigen doppelt so stark wie die Mieten im Hamburger Mietenspiegel“, so Chychla. „Sie kriegen hier nichts mehr unter 12 Euro pro Quadratmeter.“
Diese Entwicklung in St. Georg sei von Bezirksamt und Senat so gewollt gewesen, glaubt Michael Joho vom Einwohnerverein St. Georg. „Der Hauptbahnhof und das Bahnhofsviertel sollen Hamburgs Visitenkarte werden“, denkt er. Deshalb genehmige der Bezirk auch immer wieder den Bau neuer Hotels. „Seit 15 Jahren laufe ich Sturm gegen jedes Hotel“, erzählt Joho. „Es hat aber bislang nichts genützt.“ Durch die Hotels würde ein Automatismus in Gang gesetzt, der die bestehenden Gewerbestrukturen gefährde. Denn wo Touristen sind, da siedeln sich Kneipen an und die werten das Viertel auf. „Die Außengastronomie auf der Langen Reihe ist in den letzten Jahren immer weiter ausgebaut worden“, sagt Joho. „Die Anwohner empfinden das als Verlust ihres Raumes.“
Unsachlich und unfair sind die Vorwürfe des Einwohnervereins aus Sicht des Bezirksamts Mitte. „Von uns war eine gesunde Durchmischung im Stadtteil gewollt“, sagte Bezirksamtssprecherin Sorina Weiland zu Hinz&Kunzt, „eben ein lebendiger Stadtteil.“ Allerdings räumt sie ein, dass von Aufwertung des Quartiers nun Dritte ungerechtfertigt versuchen zu profitieren. Dagegen sei der Bezirk allerdings machtlos. „Das Einzige, was man machen kann, sind Appelle an die Vermieter“, so Weiland. Schließlich habe der Bezirk bei Gewerbevermietungen keine Handhabe. Handlungsbedarf sieht die Sprecherin allerdings auch: „Langfristig könnte die Lange Reihe verloren gehen“, sagt sie.
Seit Februar gilt in St. Georg eine soziale Erhaltungsverordnung. Modernisierungen, bauliche und Nutzungsänderungen sowie die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen müssen seither besonders genehmigt werden, die Stadt hat bei Wohnungsverkäufen ein Vorkaufsrecht. So soll die Verdrängung einkommensschwacher Haushalte durch Luxusmodernisierungen oder die Umwandlungen von Miet- in teure Eigentumswohnungen verhindert werden. Für Michael Joho und Siegfried Chychla kam diese Verordnung viel zu spät. 2002 hatte der Bezirk eine solche noch abgelehnt, seitdem wurden etwa 500 Miet- in Eigentumswohnungen umgewandelt – rund ein Zehntel aller Wohnungen im Quartier. „Wäre die Verordnung damals gekommen, hätten wir diese Wohnungen heute noch“, sagt Joho. Einzelhändlern wie Robert Wohlers hilft die Verordnung ohnehin nicht: Sie schützt nur private Mieter. Deswegen fordert der Mieterverein auch gesetzlichen Schutz für Kleingewerbe. Darüber müsste allerdings der Bundestag entscheiden.
Die Solidaritäts-Demonstration für die Buchhandlung endete am Mittwochabend vor dem Büro des Vermieters am Hansaplatz. Die empörten Viertelbewohner legten ihm alte Bücher vor die Tür, auf die sie fiese Sprüche geschrieben hatten. „Miethaie zu Fischstäbchen“ stand auf einem. Buchhändler Wohlers hat kein Buch beigesteuert. „Meine Bücher sind mir viel zu schade dafür“, sagte er. Der Vermieter hat sich trotz lautstarker Aufforderungen der Protestierenden nicht am Fenster blicken lassen. Und mit der Presse will er auch nicht über den Fall sprechen.
Text und Foto: Benjamin Laufer