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Das Plattenarchiv muss leben!

Gabriel Schimmeroth weiß, wo im Vinyl-Archiv welche Platte steht. Foto: Dmitrij Leltschuk
Gabriel Schimmeroth weiß, wo im Vinyl-Archiv welche Platte steht. Foto: Dmitrij Leltschuk
Gabriel Schimmeroth weiß, wo im Vinyl-Archiv welche Platte steht. Foto: Dmitrij Leltschuk

Jahrzehntelang lagen sie auf dem Dachboden des Museums: 4800 besondere Schallplatten aus aller Welt gehören zur Sammlung des MARKK. Auch Besucher:innen dürfen darin stöbern.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Gabriel Schimmeroth ist weder DJ noch Musikwissenschaftler. Er ist kein ambitionierter Plattensammler. Aber in einer Sammlung von 4800 teils 50 Jahre alten Schallplatten weiß Schimmeroth genau, wo er schauen muss.

Also stellt er sich auf eine Holzkiste, die als Trittleiter dient, und zieht zielstrebig eine Papphülle mit einem grobkörnigen Schwarz-Weiß-Cover aus dem Regal. Er entnimmt der Hülle eine schwarze Vinylscheibe und lässt die Nadel darauf sinken. Ein plastikartig scheppernder Synthesizer ertönt, dann eine Gesangsmelodie. In ihrer Schlichtheit erinnert sie an ein Kinderlied.

Kern der Sammlung: Platten aus Afrika

„Musikalisch ist das nicht besonders aufregend“, kommentiert Schimmeroth trocken. „Aber die Dinge werden interessant durch die Fragen, die man an sie stellt.“

Gabriel Schimmeroth hat in seinem Berufsleben schon viele Fragen gestellt. Er ist studierter Historiker, seit 2018 arbeitet er am Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt, kurz MARKK, in Hamburg. An diesem trüben Novembertag haben wir uns im „Zwischenraum“ getroffen, direkt links hinter dem prächtigen Foyer des Museums gelegen. In einer Ecke versteckt sich hier das Vinylarchiv des MARKK – eine Sammlung von mehr als 4800 Schallplatten aus aller Welt. Jahrzehntelang moderten sie in Kisten auf dem Museums-Dachboden vor sich hin, ehe Schimmeroth ein einfaches Regalsystem anfertigen ließ. Nun wird dieses Regal hinter Glas präsentiert, in einer 100 Jahre alten Vitrine.

Nordorient, Balkan, Ostafrika: Im Vinylarchiv kommen Schallplatten aus aller Welt zu Gehör. Foto: Dmitrij Leltschuk
Nordorient, Balkan, Ostafrika: Im Vinylarchiv kommen Schallplatten aus aller Welt zu Gehör. Foto: Dmitrij Leltschuk

Darunter: griechische Filmmusik. Kistenweise ungarische Volkstänze. Weihnachtslieder eines „Polish Song and Dance Ensemble“, „Texas-Mexican Border Music“ aus den 1930er-Jahren und holländische Fußball-Songs aus den 1960ern („24 Feijenoord Knallers“). Den Kern der Sammlung bilden Platten aus Afrika. Stars wie die verstorbenen Musiker Manu Dibango und Fela Kuti sind vertreten, aber auch ethnologisch ausgerichtete Zusammenstellungen, die die Musik einer kulturellen Region abbilden, wie die Sammlung „Ethiopia“, Volume eins bis drei. Die meisten sind nur grob sortiert, nach Kategorien wie „Nordorient“, „Balkan“ oder „Ostafrika“.

Die Platte mit dem grobkörnigen Schwarz-Weiß-Cover, die Schimmeroth so zielsicher gefunden hat, stammt von dem rumänischen Singer-Songwriter und pro-demokratischen Aktivisten Cristian Paturca. Es war eines der ersten Alben, die nach dem Sturz des Diktators Ceaușescu in Rumänien produziert wurden. Die kinderliedhaften Melodien wurden im Frühjahr 1990 auch bei Demonstrationen auf dem Bukarester Universitätsplatz gesungen, ehe die ersten freien Wahlen in der ehemaligen Sowjetrepublik stattfanden.

„Es gibt keinen ‚Elevator Pitch‘ für diese Sammlung“, sagt Schimmeroth. „Man kann nicht in zwei, drei Sätzen sagen, woher die Platten kommen oder auf welchen Labels sie verlegt wurden. Die Herkunft ist sehr komplex, es sind sehr unterschiedliche Platten.“

Der Kurator Heinz Jockers hatte in den 1980er- und 1990er-Jahren einen großen Anteil am Wachstum der Sammlung des MARKK. Jockers legte als DJ im Kulturzentrum W3 auf, unternahm Forschungsreisen und fuhr regelmäßig nach Brüssel und Paris, um in den dortigen Plattenläden einzukaufen. Etliche afrikanische Vinyl-Scheiben der Sammlung tragen den Aufkleber eines belgischen Musikvertriebs: „Musicanova“. Viele Exemplare wanderten als Schenkungen aus dem Nachlass von Vinyl-Sammler:innen in das Haus an der Rothenbaumchaussee.

„Manchmal kommen Anfragen, ob wir eine Kiste mit Bach-Präludien nehmen wollen“, sagt Schimmeroth. „Das ist aber nicht wirklich interessant, und natürlich bauen wir auch nicht unseren Bestand an deutschen Hitparaden-Schlagern aus. Aber wenn jemand afrikanischen Pop aus den 1970ern hat oder Musik aus Mikronesien oder Mexiko – bitte melden!“

Die Öffentlichmachung der MARKK-Sammlung begann im Sommer 2019. Schimmeroth rief den „Vinyl-Archäologen“ und Musikvermittler Sebastian Reier an, der sich DJ Booty Carrell nennt. „Ich erzählte ihm von den Umzugskisten. Wir planten eine Veranstaltung mit den Platten: ‚Wäre das was für dich?‘ Sebastian ist noch am selben Tag vorbeigekommen.“

Reiers Verbindungen entpuppten sich als Glücksfall für das Haus. Als Multiplikator machte er die DJ-Reihe mit dem augenzwinkernden Titel „Ich markk Vinyl“ bekannt, teils kamen bis zu 200 Besucher:innen zu Talk- und Hörabenden in den Zwischenraum. „Selbst mein Zahnarzt ist hingegangen, als er davon gehört hat“, erinnert sich Reier in einer Museumspublikation.

Der Musikexperte lebt und arbeitet inzwischen in München. Aber das MARKK präsentiert die Sammlung noch immer. In unregelmäßigen Abständen gibt es das „Offene Vinylarchiv“; das nächste Mal am 5. Dezember. „Wir wollen, dass dieses Archiv lebt“, sagt Schimmeroth. „Die Platten, die hier sind, sollen auch gehört werden. Unser Museum ist nicht nur ein Ort für Ausstellungen, sondern auch für Performances, Workshops, Konzerte und Diskussionen.“

Dem teils rassistisch begründeten Exotismus, mit dem gerade afrikanische Musik bis in die Nullerjahre hinein betrachtet wurde, will das MARKK vorbeugen. Bis 2018 hieß das Haus Völkerkundemuseum. Die Umbenennung sei nötig geworden, weil der Name „negative Assoziationen und Emotionen“ hervorrufe, so die Leiterin Barbara Plankensteiner damals.

Es gehe nicht mehr um das Beschreiben von Völkern, sondern um die Herkunft der Ausstellungsobjekte und um „die kulturelle Verankerung des Menschen“. Vieles, was das MARKK heute macht, hat mit der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte zu tun – denn Hamburg war der zentrale Hafen des damaligen Kaiserreichs für den deutschen Kolonialismus.

„Dekolonialisierung ist ein langer Prozess“, sagt Gabriel Schimmeroth. „Da gibt es keinen Dreimonatsplan. Es geht darum, wie wir Räume für Diskurse und Experimente offenhalten.“

Im Regal findet sich auch eine Platte mit einem dunkelblauen Cover: die Master Musicians Of Tanzania mit „Mateso“, zu Deutsch: „Leiden“. Der Musiker und Instrumentenbauer Hukwe Zawose nahm das Album 1987 mit anderen Mitgliedern der Wagogo-Ethnie in Zentraltansania auf. Mateso klingt eher träumerisch und sanft als leidend. Trommeln und Lauten erklingen, unterstützt von hypnotischen Gesangsharmonien. Die Atmosphäre im Zwischenraum erscheint plötzlich leichter, gelassener. Wenn das Museum am Rothenbaum möchte, dass seine Besucher:innen offen für Experimente bleiben – dieses Ziel hat es in diesem Moment erreicht.

Artikel aus der Ausgabe:
Ausgabe 382

Entspannt euch!

Wie stressig die tägliche Suche nach einem Schlafplatz ist, zeigt ein Tag mit dem obdachlosen Hinz&Kunzt-Verkäufer Vasile. Außerdem in unserem Schwerpunkt zum Thema Stress: Wir haben mit Forscherin Ulrike Ehlert darüber gesprochen, was gegen Stress hilft. Und Entspannungskurse auch armen Menschen zugänglich zu machen, versucht der Verein „Yoga hilft“.

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Autor:in
Jan Paersch
Freier Kulturjournalist in Hamburg. Zwischen Elphi und Stubnitz gut anzutreffen - und immer auf einen Espresso.