Einer der ungewöhnlichsten Adventskalender der Stadt ist der KunstKalender St. Georg. Der Pappkalender hat zwölf Türchen und gibt den Blick frei auf zwölf Kunstwerke. Die echten Bilder können Sie dann in Geschäften und Cafés im Stadtteil kennenlernen. Höhepunkt ist eine Auktion. Wir haben die Organisatorin Marina Friedt und vier Künstler besucht.
(aus Hinz&Kunzt 226/Dezember 2011)
George Riemann liebt St. Georg. Viele schöne Restaurants gibt es hier, zentral gelegen ist der Stadtteil – und multikulti. „Anders könnte ich gar nicht mehr leben“, sagt der 50-Jährige. Ein ganz klein bisschen erinnert das Viertel den Cartoonisten an San Francisco, wo er 15 Jahre lang gelebt hat. Als er 2001 wieder zurück in seine Heimatstadt kam, „habe ich Hamburg und St. Georg erlebt wie ein Tourist“. Und war begeistert. Eigentlich wollte er nach Barcelona weiterziehen, aber er blieb in St. Georg hängen wie damals in San Francisco.
Jetzt, im Jahr 2011, liebt er den Stadtteil immer noch, aber er hat so seine Befürchtungen: durch die ständige Aufhübschung und Ausgrenzung der Armen werde der Stadtteil nicht unbedingt attraktiver. „Das Leben wird rausgewürgt aus St. Georg“, findet er. „Täglich eröffnen neue Designerläden auf der Langen Reihe – inzwischen kommt man sich vor wie ein aussterbendes Tier in einem gigantischen Genmaisfeld – obwohl inzwischen jeder wissen sollte, wie anfällig Monokulturen sind!“
Für den KunstKalender und die Versteigerung hat sich der Cartoonist für ein „liebes Bild“ entschieden, ein Gemälde des Hansaplatzes. Das hätte bei George Riemann auch ganz anders ausgehen können. Er zeichnet nämlich sehr gerne bäse Cartoons, in denen er die Pervertierung der Welt durch Gier, Macht und Geld aufs Korn nimmt. Für diese Bilder hat er eine eigene Website eingerichtet: www.grmph.com. „Das ist meine Bad Bank der Cartoons“, sagt Riemann. Seine Good Bank kann man unter www.georgeriemann.de besichtigen.
Die Organisatorin arbeitet ehrenamtlich
Treffen mit Marina Friedt am Hansaplatz. Hier im Vor-Ort-Büro organisiert die freie Journalistin zum dritten mal den KunstKalender – ehrenamtlich. Und so funktioniert der KunstKalender: Ähnlich wie bei einem Adventskalender kann man vom 1. bis 12. Fezember jeden Tag ein Türchen öffnen. Dahinter erscheint das Bild eines kunstwerks. Das echte Werk wird am selben Tag in einem Geschäft in St. Georg vom Künstler bei einer Minivernissage ausgepackt. Ort und Termin stehen auf dem Kalender. Ausgesucht werden die Werke von einem Minikuratorium.
Ein witziges Kunstwerk, das in Marina Frieds Büro ganz unscheinbar steht, wird jetzt doch kein Bestandteil des Kalenders. Es heißt Rauschwerke 3 und ist – eine Teekiste. Aber eben eine besondere. Mit dieser hat sich der Künstler Harald Schiller auf den Hansaplatz gesetzt und Interviews gemacht mit der Fragestellung: „Wer nippt seinen Tee bald am Hansaplatz?“ Unter anderem hat auch Peggy Parnass mitgemacht. Aber Harald Schiller kann sich von seiner Kiste und den dazugehörigen Texten noch nicht verabschieden. Das müsste er aber, wenn er mitmachen wollte. Schließlich werden zum Schluss alle Kunstwerke versteigert.
Klar wird jedenfalls bei der Begegnung mit Marina Friedt: Der KunstKalender ist ein ganz schöner Organisationsaufwand, den Marina Friedt mit wenigen Helfern wuppen muss. Warum sie das macht? Sie liebt St. Georg, lebt selbst dort. Gerade in Zeiten der Verdröngung und explodierender Mieten will sie den Stadtteil wieder „zurückerobern“, die Kunst in den öffentlichen Raum bringen. Und: „Die Künstler sollen mal rauskommen aus ihren Ateliers“, sagt sie. „Und bei den Auspack-Aktionen lernen sich Menschen kennen, die sich sonst nie treffen würden.“ Auch die benachteiligten Bewohner sollen von der Kunstaktion etwas haben. Deswegen gehen 30 Prozent des Erlöses an den Stiftungsfonds St. Georg.
Im Durchgang zur Koppel hat Ulrich Rölfing sein Atelier. Man kommt von der trubeligen und lauten Langen Reihe, biegt ab und findet sich inmitten einer Idylle: zweistöckige Häuschen mit Garten. Mit dem nach außen gewölbten Oberlicht wirkt Ulrich Rölfings Atelier fast kathedral. Skulpturen stehen neben abstrakten Bildern, dann wieder das bronzekonterfei eines Entdeckers. Eine Skulptur heißt Flamme, hat aber auch etwas Florales. Eine kleine Schwester der Skulptur hat er in Kunststein gegossen und für den KunstKalender bereit gestellt.
Und ganze Porträtreihen hat er gemalt, hauptsächlich von Wohnungslosen. Dreimal hat er wochenlang in einer Einrichtung verbracht, einmal sogar vier Wochen lang mit ihnen dort gelebt. Zwei Stunden saßen ihm die Männer jeweils Modell, zwei Stunden, in denen sie stillsitzen und nicht reden durften. Die Gesichter erzählen trotzdem ganze Lebensgeschichten. So gut haben ihm die Menschen und ihre Gesichter gefallen, dass er eine neue Porträtreihe gemalt hat: Seniorbauern und ihre Höfe.
Allie Künstler leben in St. Georg
In der Koppel wohnt und arbeitet die Künstlerin Helga Laval. Die Witwe des bekannten Malers Peter Grochmann und die Organisatorin Marina Friedt brüten gerade über den neuen Titelblättern für den KunstKalender: Sie entscheiden sich für Bilder aus der Clownserie. Grochmann, der auch viele Prominente porträtierte und ganze Filme malerisch begleitete, verband eine jahrzehntelange Freundschaft mit dem Zirkusdirektor, Clown und Roncalli-Mitbegründer Bernhard Paul. Zehn Jahre lang malte Peter Grochmann das Leben im Zirkus Roncalli, so wie andere Fotos machen.
Auch Helga Laval selbst ist vom kleinen Kuratorium um Marina Friedt wieder ausgewählt worden – mit einem Portrat ihrer Enkelin. Seit Jahrzehnten lebt sie in St. Georg, hat den Stadtteil erlebt, „als er noch schmuddeliger und der Wohnraum günstiger war“. Zum Glück, sagt sie, haben sie und auch viele andere, die sie kennt, so alte Mietverträge, dass die Miete noch erschwinglich ist. „Ich möchte in keinem anderen Stadtteil leben. Es ist ein so bunter Stadtteil – eben weil auch so viele Künstler und Prominente hier wohnen.“
Letzte Station an diesem Nachmittag: Die Malerin Kerstin Estherr in der Lindenstraße. Sie wohnt auf der anderen Seite von St. Georg. Der Steindamm markiert die Grenze. Hier steigen zwar auch die Mieten, aber eher moderat, hier gibt es noch Leerstand und kaum noch Geschäfte. Aber Kerstin Estherr mag diese Seite von St. Georg trotzdem oder gerade deshalb. Sie ist besorgt darüber, dass es auf der Langen Reihe schon Eigentumswohnungen für um die 500.000 Euro geben soll.
Das Vergängliche, die ständige Erneuerung, die sich auch im Stadtteil spiegelt, beschäftigt Kerstin Estherr auch in ihrer Kunst. Allerdings eher abstrakt. Sie trägt Farbschichten auf, kratzt sie wieder ab, lässt das Bild stehen, um es weiter zu bearbeiten, mit Holz, mit Stoff oder Pappe, mit Espresso, mit Wüstensand, mit Hand, Spachtel oder Pinsel. Ihre Bilder scheinen mehrere Leben zu haben. Was vorher die Oberfläche war, wird plötzlich hintergründig oder blitzt nur noch durch. Manche Bilder, sagt sie, „sind wie eine griechische Fähre. Immer wieder wird sie überstrichen, aber durch jede Farbschicht arbeitet sich der Rost wieder durch“.
Dieser Tage hört sich dieser Vergleich mehr als doppeldeutig an. Für den KunstKalender hat sie eines ihrer Streifenbilder eingereicht. Streifen faszinieren sie seit Jahren. Man kann schon sagen: Phasenweise wird sie von ihnen beherrscht. Früher waren es mehr vertikale Streifen. Dann fuhr sie nach New York – und malte zeitweise nur noch horizontale Streifen, „weil ich dem Vertikalen der vielen Wolkenkratzer etwas entgegen setzen musste“. Aber diese Phase ist auch wieder beendet. „Aktuell sind die vertikalen Linien auf Papier oder Leinwand wieder vorherrschend“, sagt sie – und lacht.
Text: Birgit Müller
Foto: Mauricio Bustamante