Krieg in der Ukraine

Kunst im Exil

In Hamburg untergekommen zu sein, empfindet Jazzmusiker Jean Yanochkin als Glücksfall. Foto: Dmitrij Leltschuk

Unter den rund 30.000 ukrainischen Geflüchteten in Hamburg sind auch viele Kulturschaffende. Wir haben einige von ihnen getroffen. Wie arbeitet es sich als Künstlerin oder Künstler in der Fremde?

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Ein Donnerstagabend im Eimsbütteler Jazz-Club „Birdland“. Der Laden ist voll, das Publikum lauscht den Improvisationen der Musiker:innen auf der Bühne und quittiert die Darbietungen immer ­wieder mit begeistertem Applaus. Am Klavier sitzt Jean ­Yanochkin und spielt virtuos. Er hat sichtlich Spaß am Konzert, wirkt ganz in seinem Element. 

Der Jazzmusiker hat in Hamburg eine neue musika­lische Heimat gefunden, seit er vor dem Krieg in der Ukraine hierher floh. Die Musik habe es ihm einfach gemacht, ­Kontakte zu knüpfen und sich einzuleben, erzählt er vor dem Konzert. Seine zehn Jahre alte Tochter Jana ist beim Treffen dabei und tippt auf ihrem Smartphone herum. 

Jean stammt aus Donezk, lebte zuletzt aber in Kyiv*. Der 43-Jährige war Teil der Studiobands in zwei beliebten ukrainischen TV-Shows und spielte regelmäßig Konzerte im In- und Ausland, bis der Krieg sein Leben auf den Kopf stellte. Acht Tage lang hätten er und seine Familie in einem Keller nahe des umkämpften Vororts Bucha ausgeharrt, hätten Bomben und Panzer immer näherkommen gehört und sich schließlich zur Flucht entschlossen. Frau und Tochter machten sich ohne ihn auf den Weg, während er auf die Ausreisegenehmigung wartete. Dass Jean rausdurfte und sich nicht wie die meisten ukrainischen Männer für die Front bereithalten musste, liegt an seinem Gesundheits­zustand. Ihm wurde die Schilddrüse entfernt, regelmäßig muss er Medikamente nehmen. Eine Narbe an seinem Kehlkopf zeugt davon. Er wurde ausgemustert und konnte nach wenigen Wochen Frau und Tochter folgen. Inzwischen lebt die Familie in einer kleinen Wohnung in Norderstedt. 

Jean klingt gelassen, während er all das erzählt. Der Krieg in seiner Heimat sei furchtbar, aber Brüche im Leben seien für Künstler:innen einfacher zu verkraften als für ­andere, glaubt er: „Als Musiker führt man ohnehin ein beweglicheres, instabileres Leben.“ Dass er in Hamburg gelandet sei, empfinde er als Glücksfall: „Ich bin Beatles-Fan und mag Hafenstädte. Hamburg erinnert mich an Odessa. Und es gibt so viele gute Musiker:innen hier, dass ich mich gleich zu Hause gefühlt habe.“   

Auch die 26 Jahre alte Tänzerin und Choreografin Daniella Preap fand in Hamburg sofort einen Ort, der ihr ein Gefühl von Zugehörigkeit gab. Sie kam mithilfe eines Stipendiums von K3, dem Zentrum für Choreografie auf Kampnagel, nach Hamburg. Direkt nach Ausbruch des Krieges wurde hier ein Residenzprogramm für ­ukrainische Choreograf:innen auf die Beine gestellt, für das Daniella den Zuschlag bekam. Sie sei dankbar dafür, wie schnell und unbürokratisch alles lief, erzählt sie: „Das Programm gab mir die Möglichkeit, nicht blindlings ­irgendwohin zu fliehen, sondern bot mir direkt ein Ziel und eine Aufgabe und Austauschmöglichkeiten mit ­anderen Künstler:innen.“ 

Als der Krieg ausbrach, war Daniella gerade dabei, sich in der Ukraine eine neue Existenz aufzubauen. Nachdem sie 2018 ihr Choreografie-Studium in Kyiv abgeschlossen hatte, war sie nach Kambodscha gegangen, dem Herkunftsland ihres Vaters. Dort wollte sie ein Jahr lang als Tanz­trainerin arbeiten. Dann kam die Coronakrise und machte ihr einen Strich durch die Rechnung. „Ich hing in Kambodscha fest und hatte großes Heimweh nach Kyiv. Ich wollte so schnell wie möglich zurück und dort meine Karriere fortsetzen.“ Im Sommer 2021 erst gelang ihr die Rückreise – ein halbes Jahr vor Ausbruch des Krieges. Die Entscheidung, ihre Heimat erneut zu verlassen, sei ihr nicht leichtgefallen, erzählt sie, aber ihr Vater habe sie zur Flucht gedrängt. Er selbst floh mit Daniellas Mutter in die Niederlande. 

„Mir tut es besonders für meinen Vater leid, dass er das durchleben musste“, sagt Daniella. Er sei als junger Mann schon einmal vor Krieg und Gewalt geflohen, vor dem ­Terrorregime der Roten Khmer, jetzt habe er erneut sein gewohntes Leben verloren. Als der russische Angriff begann, habe sie auch an sich selbst gemerkt, wie vererbte Traumata aufbrachen. Sie sei froh, hier in Sicherheit zu sein, auch wenn sie lange das schlechte Gewissen darüber geplagt ­habe, dass es ihr gut gehe, während viele ihrer ­Verwandten und Freund:innen in der Ukraine ausharrten. Dennoch hätte es für sie nicht besser laufen können. Die ­Residenz am K3 gab ihr die Möglichkeit, Dinge auszu­probieren, die sie ­eigentlich in Kyiv vorgehabt hatte: zeitgenössischen Tanz mit ­traditionellen kambodschanischen Einflüssen. Choreo­grafien, die sie vergangenes Jahr auf Kampnagel umsetzen und aufführen konnte. 

Auch an der Hochschule für bildende Künste (HfbK) gab es direkt nach Kriegsbeginn ein schnelles, unbüro­kratisches Hilfsprogramm. Zum Sommersemester 2022 startete hier die „Ukrainian Class“, eine Klasse für Kunststudent:innen, die aus der Ukraine geflohen waren. Eine der Teilnehmer:innen war Alisa Sizykh aus Charkiw. Die 19 Jahre alte Videokünstlerin studierte in Kyiv Theater und Regie und arbeitete nebenbei als experimentelle Filmemacherin. Als sie von dem Programm hörte, bewarb sie sich mit ihren Videos und wurde angenommen. Die ersten Treffen an der neuen Uni seien seltsam gewesen, erinnert sich Alisa. „Wir standen alle noch unter Schock, waren ­verängstigt und unsicher. Ich glaube, die wussten hier erst nicht so richtig, was sie mit uns anfangen sollen.“ ­Inzwischen aber fühle es sich normal an, hier zu sein, erzählt ­Alisa, während sie in einem Gemeinschaftsstudio an der HfbK sitzt, einer Uni, über die sie vorher nicht viel wusste, aber die sich als genau richtig für sie herausstellte. Ihr Studium in Kyiv sei sehr verschult und streng durchstrukturiert gewesen, hier habe sie die Freiheit, sich auszuprobieren.  

Eine von Alisas letzten Arbeiten, die noch in der ­Ukraine entstanden, ist eine Montage aus verschiedenen Handy-Videos junger Ukrainer:innen, die sich in den ­Wochen vor dem russischen Angriff darüber austauschen, wie wahrscheinlich ein solcher Angriff tatsächlich sei und was ein Krieg für ihr Leben bedeuten könnte. Der Kurzfilm ist auf Alisas Webseite zu sehen. Eine Collage aus vielen ­jungen Stimmen, die sich einen Krieg kaum vorstellen können. Er lief auf zahlreichen Festivals, und auch in ­Hamburg hat Alisa schon oft ausgestellt. Sie ist produktiv seit ihrer Flucht, hat mehrere Videoarbeiten fertiggestellt. Darunter einen Kurzfilm, der während eines Residenz­aufenthaltes in Italien entstand und in dem berstende Granatäpfel eine Rolle spielen. „Im Ukrainischen sind Granate und Granatapfel das gleiche Wort. Mit dieser ­Doppeldeutigkeit wollte ich spielen“, erklärt Alisa. Ein ­anderer ihrer Kurzfilme spielt im alten Elbtunnel. Sie wollte an einem Ort arbeiten, der den meisten Hambur­ger:innen vertraut ist, den sie aber erst vor ­Kurzem für sich entdeckt habe, erzählt sie. Eigentlich ­laufe alles ziemlich gut für sie. Der riesengroße Haken an der Sache sei die Sorge um ihre Eltern und ihre kleine Schwester, die in der Ukraine zurückgeblieben sind. 

Die Sorge um Angehörige beschäftigt auch Musiker Jean Yanochkin. Er habe nicht so oft Heimweh, aber die Menschen in der Heimat vermisse er sehr, obwohl er hier viele neue Freunde gefunden habe. Unter ­anderem durch die Konzertbrigade Ukraine, eine Band aus ukrainischen Musiker:innen, die traditionelle Lieder aufführen und ­regelmäßig Benefizkonzerte geben. Seine Tochter Jana ist Mitglied der Konzertbrigade, sie singt und spielt Geige. Die ukrainische Kultur zu verbreiten sei seit dem russischen Angriffskrieg nötiger denn je, findet Jean: „Unsere Kultur ist das Wichtigste, was wir haben, wir müssen sie verteidigen. Das ist vielen von uns erst jetzt richtig klar geworden.“ 

Für Tänzerin und Choreografin Daniella Preap hat der Krieg in ihrer Heimat ebenfalls zu einer Rückbesinnung auf die ukrainische Kultur geführt. Sie vermeide es inzwischen konsequent, Russisch zu sprechen, obwohl das vor dem Krieg ihre Alltagssprache gewesen sei. „Früher dachte ich immer, Kunst und Kultur seien unpolitisch. Jetzt weiß ich, dass wir Künstler:innen eine große Verantwortung haben. Wir müssen uns engagieren, ­unsere Kultur stärken und bekannter machen. Gerade wenn wir im Ausland sind.“ 

Daniellas Residenz am K3 Zentrum für Choreografie lief im April aus. Aktuell unterrichtet sie Tanz für Kinder und Erwachsene und andere Geflüchtete. Und bewirbt sich parallel für einen Studienplatz in Psychologie. „Ich liebe Tanz, ich werde immer Tänzerin bleiben. Aber ich sehne mich inzwischen nach Stabilität und will noch einen anderen, solideren Beruf lernen“, erklärt Daniella. 

Der Gedanke an eine langfristige Perspektive in Deutschland war anfangs weit weg. Das Gefühl, ihre Landsleute im Stich gelassen zu haben, während die das Land verteidigen, ließ sie lange nicht los. „Als ich ankam, war ich sicher, dass ich sofort zurückgehe, sobald die Situation es zulässt. Ich wollte nie woanders leben.“ Doch dann habe sie sich hier verliebt, und alles sieht anders aus: „Mein Zuhause ist jetzt da, wo mein Partner ist. Ich denke, wir werden zusammen in Hamburg bleiben.“

Auch für Kunststudentin Alisa beginnt ein neuer ­Lebensabschnitt. Das Programm für ukrainische Geflüchtete läuft aus, an der HfbK wird sie bleiben. „Ich habe plötzlich das Gefühl, nicht mehr als Geflüchtete hier zu sein, sondern als ganz normale Kunststudentin. Das fühlt sich toll an. Ehrlich gesagt würde ich gerade nirgendwo anders sein wollen als hier, auch wenn ich ein schlechtes Gewissen habe, das auszusprechen.“

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Autor:in
Yasemin Ergin
freie Journalistin

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