Am 2. Januar 2020 wäre Ernst Barlach 150 Jahre alt geworden. Birgit Müller hat zu diesem Anlass mit dem Leiter des Ernst Barlach Hauses, Dr. Karsten Müller, darüber gesprochen, warum der Bildhauer, Zeichner und Dramatiker noch heute aktuell ist.
Hinz&Kunzt: Ernst Barlach würde im Januar 2020 150 Jahre alt. Warum ist er für uns heute noch wichtig?
Karsten Müller: Er hat existenzielle Themen bearbeitet – auf eine sehr offene und fragende Weise. Er ruhte sich nicht auf Gewissheiten aus, sondern stellte infrage, rückte ins Zentrum, was andere an den Rand drängen. So hat er sich auch mit Armen und Bettlern, Obdachlosen und Flüchtlingen beschäftigt, mit Menschen, die nichts haben und ausgegrenzt sind.
Warum tat er das?
Er versuchte, grundlegende Zustände des Menschseins darzustellen, reagierte aber auch auf seine Zeit, etwa die Verwüstungen des Ersten Weltkrieges und das Chaos danach: Alles lag in Trümmern, es gab konkurrierende Vorstellungen, wie die Gesellschaft neu geordnet werden sollte, es gab Radikalisierungen, die Novemberrevolution – das waren Verhältnisse, die Barlach sehr beunruhigten. Auch Flüchtlinge oder Bettler konnte man im Straßenbild sehen – und man sieht sie ja auch heute im reichen Hamburg. Insofern geht uns das alles etwas an.
Hat ihn das Thema Armut bewegt oder war das eher etwas Formales?
Ihn hat beschäftigt, dass es gesellschaftliche Außenseiter oder zu Außenseitern gemachte Menschen gibt, die durch ihre Armut entblößt sind, bei denen zutage tritt, was andere durch schöne Oberflächen und Verkleidung aller Art maskieren können. Die Bettler, die er auf seiner Russlandreise 1906 gesehen hatte, verkörperten für ihn eine prekäre Existenz, und er hatte den Eindruck, sie stehen für uns alle. Denn letztlich sind wir alle so verletzlich, wir versuchen uns nur auf unterschiedliche Weise zu schützen. Die Bettlerfiguren waren für ihn Repräsentanten des Menschen an sich. Und in Russland ist bei ihm der Groschen gefallen.
„Letztlich sind wir alle so verletzlich.“– Karsten Müller
Bis zur Nazizeit war Barlach ein sehr bekannter und anerkannter Künstler …
Ja, er hat in den 1920er-Jahren auch eine Reihe von öffentlichen Mahnmalen gestaltet, die sich dem gängigen Pathos verweigerten. Es waren Ehrenmale für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges, die aber so gar nichts mit Totenkult und Kriegstreiberei zu tun hatten.
Kurz bevor die Nazis an die Macht kamen, hielt Barlach noch eine Rede, in der er vor ihnen warnte. 1934 unterschrieb er dann allerdings einen Aufruf von Künstlern, die Hitler das Vertrauen aussprachen. Aber da war er schon ins Visier der Nazis geraten.
Barlach beschrieb das so, dass ihm die Unterschrift am Telefon abgenötigt worden sei. Er fühlte sich zermürbt und hoffte wohl, dass damit die Drangsalierungen nachlassen würden. Aber was er von dem Regime hielt, hat er immer wieder gezeigt. Unter den nationalsozialistischen Kulturpolitikern und Studenten gab es erst ein Hin und Her, wie man mit Emil Nolde und Ernst Barlach umgehen sollte. Beide galten manchen als „nordische deutsche Künstler“, die sozusagen auf Regimelinie sein könnten. Aber dann fiel die Entscheidung doch sehr klar.
Was kritisierten seine Gegner*innen?
Beispielsweise den Verzicht auf Heldenpathos bei seinen Mahnmalen, aber auch die angeblich „ostischen Typen“, die er nach seiner Russlandreise in seine Kunst hineingebracht hat. Was Barlach zeige, sei „kulturbolschewistisch“ und „Untermenschentum“. Und er hatte eine enge Verbindung zu jüdischen Kunsthändlern und Sammlern, für die er eingestanden ist. Es gab ja auch Kampagnen, ihn selbst als einen jüdischen Künstler an den Pranger zu stellen.
Ernst Barlach und Hermann F. Reemtsma, Industrieller, Kunstsammler und Gründer des Ernst Barlach Hauses, lernten sich 1934/35 kennen. Was hat Reemtsma fasziniert?
Reemtsma hat Barlach in Güstrow besucht, gleich die Holzskulptur „Der Asket“ erworben und den neunteiligen „Fries der Lauschenden“ in Auftrag gegeben. Später sagte Reemtsma: „Das ist Kunst, die mich angeht!“ Und das mit dem „angeht“ meinte er durchaus auch in einem herausfordernden Sinne: Kunst, die nicht so leicht verdaulich ist, die einem etwas zu kauen gibt.
Wie war es eigentlich möglich, dass Hermann F. Reemtsma trotz allem Werke von Barlach kaufen konnte? Doch nicht unter der Hand, oder?
Barlach entdecken – gemeinsam mit Hinz&Kunzt
Am Sonnabend, den 22. Februar, 15–17.30 Uhr, können kunstinteressierte Leser*innen und Hinz&Künztler*innen an dem Workshop „Modellieren – inspiriert von Ernst Barlach“ teilnehmen. Der Eintritt ist frei.
Verbindliche Anmeldung per Mail an info@hinzundkunzt.de. Stichwort Barlach. Bitte Ihren Namen und Ihre Telefonnummer nennen sowie den Tag, an dem Sie teilnehmen wollen. Sie können sich auch für beide Termine bewerben. Wegen begrenzter Teilnehmer*innenzahl informieren wir Sie, ob Sie einen Platz bekommen haben.
Mitunter schon. Eigentlich sollten die Werke, die 1937 bei der Aktion „Entartete Kunst“ beschlagnahmt worden waren, gegen Devisen ins Ausland verkauft werden. Dafür gab es vier vom Regime ausgewählte Kunsthändler – und Barlachs Assistent Bernhard Böhmer gehörte dazu. Er hat einige Werke dann an Reemtsma verkauft. Das war eine sehr ambivalente Situation, denn Böhmer profitierte vom Regime und setzte sich doch zugleich für Barlachs offiziell „entartete“ Kunst ein. Barlach selbst hat gesagt: „Böhmer ist mein guter und mein böser Engel.“
Auch nach dem Krieg war Barlachs Werk umstritten. In der DDR hat erst ein Votum von Bert Brecht dazu geführt, dass Barlachs Werk anerkannt wurde, während es in der jungen Bundesrepublik Vorbildcharakter hatte?
Barlach starb ja schon 1938. Aber Reemtsma hat sich intensiv für ihn eingesetzt, war auch Mitglied eines Gremiums, das sich um den Nachlass gekümmert hat. Er hat versucht, Barlach im öffentlichen Interesse zu halten, und ihn später zum Hauptkünstler seiner Sammlung gemacht. Aber ein Jahr bevor das Barlach Haus eröffnete, ist Hermann F. Reemtsma gestorben. Er hat es auf den Weg gebracht, und seine Familie hat es übernommen und fortgeführt – bis heute.