Seit 25 Jahren werden Obdachlose in der Krankenstube der Caritas auf St. Pauli medizinisch versorgt. Eine Momentaufnahme von vor Ort.
Ein leises Klopfen. Hinter der Glastür steht ein Mann. Er weint, stützt sich auf die Türklinke. Barbara Winter, Leiterin der Krankenstube für Obdachlose, hat ihn schon erwartet. Das Krankenmobil hatte Makev angekündigt. Die 58-Jährige öffnet die Tür, hilft ihm bis zu einem Stuhl im Flur, in den er erschöpft hineinsinkt. Sein Auto, in dem er geschlafen hat, ist im „Autoknast“, erklärt Makev aufgewühlt. Geld, um das abgeschleppte Auto auszulösen, habe er nicht. Jetzt müsse er wieder auf der Straße schlafen. Barbara Winter beruhigt ihn und begleitet ihn in den Behandlungsraum. Eine Pflegerin misst seinen Puls, untersucht die angeschwollenen Füße. „Du kannst dich erst mal ausruhen“, sagt Winter. Makev nickt dankbar.
„Erschöpfung ist ein Aufnahmegrund“, erklärt die Krankenstuben-Leiterin. „Die Menschen müssen sich vom Leben auf der Straße erholen.“ Vergangene Woche sei eine Frau gekommen, die habe sich zwei Stunden ins Bett gelegt und sei dann wieder gegangen. „Völlig okay“, sagt die gelernte Krankenschwester und lacht.
Die meisten Patient:innen kommen aber mit Wunden, Infekten oder Knochenbrüchen. „Mit einem gebrochenen Arm kannst du nicht auf der Platte liegen“, sagt Barbara Winter. Zwölf Betten hält die Krankenstube für solche Notfälle bereit. Weitere sechs Betten sind für Tuberkulose-Patient:innen reserviert, die nicht mehr ansteckend sind. Nach dem Krankenhausaufenthalt werden sie vom Gesundheitsamt an die Krankenstube verwiesen. Dort bleiben sie zwischen neun Monaten und einem Jahr, um vom Projekt der Hamburger Caritas weiterhin mit Medikamenten versorgt zu werden.
Sven, ein hagerer Mittfünfziger, sitzt im Aufenthaltsraum. „Das läuft heute nicht so.“ Er zeigt auf das Kreuzworträtsel, über das er sich beugt. Feierlich hebt er seine Kaffeetasse: „Dafür läuft alles andere besser, seit ich wieder hier bin.“ Er klopfte vor vier Wochen an die Tür der Krankenstube. „Ich hab so das Typische: offene Wunden und so“, sagt er achselzuckend. „Mit der Hygiene ist das draußen nichts.“ Eine Pflegerin kommt herein, fragt Sven, ob er kurz auf die Waage wolle. Er folgt ihr in den Flur. „Untergewicht hab ich auch. Hab aufgehört zu essen“, erklärt er, während er auf die Waage steigt. „Hatte einfach keinen Sinn mehr.“
Vor vier Jahren kam Sven das erste Mal in die Krankenstube. Mit einer Lungenentzündung hatte er im Krankenhaus gelegen und war danach zur Erholung hergebracht worden. „Das passiert immer seltener“, sagt Leiterin Winter. Sie hat 30 Jahre lang als Krankenschwester auf Intensivstationen gearbeitet. „Ich habe die Entwicklung der Krankenhäuser zu Wirtschaftsunternehmen mitbekommen und konnte das nur noch schwer aushalten“, sagt sie. Patient:innen würden in den Krankenhäusern immer schneller entlassen, auch weil das Personal fehle. Dort habe man keine Zeit mehr, in der Krankenstube nachzufragen, ob ein Bett frei sei, Rückfragen zu Krankheitsbildern zu beantworten und Obdachlose gegebenenfalls zur Nachsorge dorthin zu vermitteln. Unversichert können sie nicht in eine Reha gehen. Die Krankenstube ist der einzige Ort, an dem sich Obdachlose erholen und weiter medizinisch versorgt werden können. Wenn sie dort nicht unterkommen, landen die Menschen wieder krank auf der Straße.
Seit zwei Jahren leitet Winter die Krankenstube. Das Schönste an ihrem Job: „Hier zeigt man den Patienten: Es gibt noch Orte der Menschlichkeit, wo euch auf Augenhöhe begegnet wird.“ Doch auch die Krankenstube stoße zuweilen an ihre Grenzen. In der Einrichtung arbeiten neun Pflegekräfte, Barbara Winter und Sozialarbeiter Thorsten Eikmeier. Ein Mal pro Woche kommt ein ehrenamtlicher Arzt. „Es bricht uns das Herz, aber wir können nur die Menschen aufnehmen, die wir auch versorgen können“, sagt Winter. Wenn zum Beispiel psychische Krankheiten im Vordergrund stünden, könne man dem hier nicht gerecht werden, weil es niemanden mit psychiatrischer Ausbildung gebe. „Das Schlimme ist“, sagt Thorsten Eikmeier, „wenn wir die Leute nicht aufnehmen können, kommt danach nichts mehr. Sie sind und bleiben unterversorgt.“
Eikmeier ist sich sicher: „Viele Menschen müssten nicht hier sein, wenn sie Wohnraum hätten, denn die Basis für ein gesundes Leben ist Wohnen.“ Trotz der kurzen Zeit versucht der Sozialarbeiter alles, damit die Patient:innen nach ihrem Aufenthalt in der Krankenstube nicht auf die Straße entlassen werden müssen. Doch das sei oft nicht machbar, weil Plätze in Folgeunterkünften fehlen. „Innerlich sagen wir dann: ‚Bis bald‘, obwohl wir uns wünschen, sie müssten nicht wiederkommen“, sagt er. „Das Leben auf der Straße macht krank. Punkt.“
Was sich in den letzten Jahren verändert hat? „Wir haben immer mehr, immer kränkere Menschen hier. Das ist kein Zufall“, sagt Eikmeier. Es gebe gerade viele Beispiele, die zeigten, wie obdachlose Menschen ausgegrenzt werden: das Bettelverbot in den Bahnen, der Umgang mit den Menschen am Hauptbahnhof. „Es wird ihnen immer schwerer gemacht, aus ihrer Lebenslage rauszukommen.“
Während seiner Zeit in der Krankenstube hat der obdachlose Sven wieder angefangen zu essen. „Ich hab wieder einen Grund“, sagt er. Nach neun Jahren auf der Straße hat er wahrscheinlich bald wieder ein Zuhause. Eikmeier hat ihm geholfen, eine Unterkunft zu finden. Momentan warte Sven noch auf eine Bewilligung der Arbeitsagentur. „Je länger ich hierbleibe, desto schwerer wird der Abschied“, sagt er nachdenklich. „Ist echt ein guter Ort hier“, fügt er hinzu, bevor er sich wieder seinem Kreuzworträtsel widmet.