Das Kindermenü von Neuwiedenthal
(aus Hinz&Kunzt 135/Mai 2004)
In einer Hochhaussiedlung in Neuwiedenthal macht der Verein „Hilfspunkt“ etwas ganz Einfaches: Er lädt Kinder zum Essen ein. Es gibt kein Fastfood, und statt vor dem Fernseher wird an einem festlich gedeckten Tisch gegessen. Die Kinder finden das nicht langweilig, sondern einfach klasse.
Graue Häuserfronten säumen die Straße „Im Stubbenhof“. Unzählige Balkons unterbrechen den Beton, hier leben in einem Haus mehr Menschen als anderswo in einer ganzen Straße. Heute strahlt die Sonne, Frühling im Stubbenhof, wo kein Beton ist, treiben Büsche und Bäume kräftiges Grün aus. Weil Sonnabend ist, muss niemand zur Schule. Die Kinder der Hochhaussiedlung bevölkern die Spielgeräte zwischen den Häusern, ein paar Jungs kicken lautstark, andere sitzen in den Hauseingängen. Auch die ganz Kleinen sind unterwegs, wie die einjährige Ausin, die von ihrer 13-jährigen Schwester Mehriban im Kinderwagen durch die Gegend geschoben wird. Es scheint, als würde das Viertel nur von Kindern bewohnt. Der Eismann jedenfalls, der etwas später hier seinen Wagen abstellt, wird ein gutes Geschäft machen.
Heute ist er nicht die einzige Sensation. Denn am Ende der Straße duckt sich ein kleines Haus neben den Hochhäusern. Genauso grau und doch anders: aus verwittertem Holz statt Beton, mit knallig-gelben Fensterläden. Drinnen riecht es nach Kartoffelpuffern. Seit zwei Stunden stehen Sabine Vetters, Sabine Will und Karen Maass in der Küche, um das Mittagessen fertig zu stellen. Die drei organisieren den „Menüpunkt“, ein Projekt des Vereins „Hilfspunkt“. Alle zwei Wochen laden sie Kinder aus dem Viertel zum Essen ein. Reichen muss es heute für 15 Kinder.
Schon tauchen die ersten Köpfe vor dem Fenster auf und schauen neugierig in die Küche. Trotzdem nimmt sich Sabine Vetters Zeit zu erklären, warum das Projekt wichtig ist: „Bei uns lernen die Kinder, dass Essen Genuss, Gemeinschaft und auch Spaß bedeutet und nicht nur nebenbei geschieht“, so die 45-jährige „Hilfspunkt“-Leiterin. „Das bekommen viele zu Hause nicht mehr mit.“ Essen sei in einer Zeit, in der man sich zunehmend beim Schnellimbiss versorge, „in allen Schichten unwichtig geworden“, findet Vetters. Doch Fastfood und Tiefkühlkost seien auf Dauer – gerade für Kinder – einfach ungesund.
Sozial benachteiligte Familien ernähren sich oft sogar noch schlechter als Besserverdienende. So sind in ärmeren Stadtteilen 70 Prozent mehr Kinder von Übergewicht betroffen – Ergebnis der jüngsten „Stadtdiagnose“ der Gesundheitsbehörde. Das trifft wohl auch auf die Hochhaussiedlung „Im Stubbenhof“ zu, in der es fast nur Sozialwohnungen gibt.
Aber beim „Menüpunkt“ geht es nicht nur um gesündere Ernährung. „Die Kinder kommen bei uns in einer friedlichen und gepflegten Atmosphäre zusammen“, so Sabine Vetters. Sie sollen die gemeinsame Mahlzeit als Kommunikations- und Ruhepunkt erleben. Konflikte durch Gespräche zu lösen, auch Kinder als Kommunikationspartner ernst zu nehmen – das sei in Familien nicht immer garantiert.
Sabine Vetters wird durch Klopfen am Küchenfenster unterbrochen. Es ist eine Gruppe Jungs, sie waren Fußball spielen, sechs Tore haben sie geschossen, eins sogar mit dem Kopf. Jetzt interessieren sie sich für das, was in der Küche passiert. „Menüpunkt“ kann also sogar bei bestem Wetter mit Fußball konkurrieren. Das Problem: Von der Gruppe hat nur der 11-jährige Zana eine Einladung. Das Verhandlungsgeschick seiner Freunde reicht nicht, um Will und Vetters zu überzeugen, sie auch am Menü teilnehmen zu lassen. Denn zum Essen darf nur kommen, wer vorher eingeladen wurde. Das hat praktische Gründe – schließlich soll das Essen reichen und die Gruppenstärke überschaubar bleiben. „In der näheren Umgebung leben fast 500 Kinder und Jugendliche“, erklärt Sabine Vetters. Die passen nun mal nicht alle in einen Raum.
Es gibt aber auch pädagogische Gründe. Nur in der kleinen Gruppse lässt sich ein friedliches Miteinander erreichen. Und: „Das Kind bekommt eine persönliche Einladung, wird als eigenständige Person wichtig genommen“, so Sabine Vetters. Kurz darauf sitzen 15 Kinder um den festlich gedeckten Tisch. Gemalte Tischkärtchen haben jedem seinen Platz zugewiesen, die Kerzen auf dem Tisch brennen, im Hintergrund läuft leise Entspannungsmusik von CD. Das Essen wird mit einem Begrüßungsritual eröffnet, das den Kindern gut vertraut ist: Alle halten sich an den Händen und rufen: „Herzlich willkommen! Schön, dass wir alle da sind.“ Für die Älteren fast schon etwas zu kindisch, trotzdem machen sie mit. Schließlich kommen gleich die Kartoffelpuffer.
Mit dabei ist auch Mehriban, ihre kleine Schwester hat sie jetzt auf dem Schoß. Die beiden sind fast immer zusammen unterwegs: „Ich passe oft auf meine Schwester auf“, erklärt Mehriban. Sie macht sogar in der Mikrowelle das Mittagessen für Ausin warm, das ihre Mutter vorgekocht und in den Kühlschrank gestellt hat. Heute gibt’s Frisches, eine Erleichterung für Mehriban.
Zana entfernt inzwischen mit der Gabel säuberlich den Brokkoli und die Karotten vom Kartoffelpuffer. Schade findet er es schon, dass seine Fußballfreunde nicht mitessen dürfen. Auch, weil heute fast nur Mädchen am Tisch sitzen. Und die nerven ein bisschen und fallen ihm ins Wort, wenn er auf Fragen antworten will. Aber: „Das Essen ist gut“, sagt er und grinst breit. So leicht lässt er sich nicht die Stimmung verderben.
Sogar „besser als McDonald’s“ findet es die zwölfjährige Sara. Das liege nicht nur am Geschmack oder den Vitaminen, präzisiert sie, sondern „daran, weil das hier direkt neben unserem Haus ist“. Der sechsjährige Mehmet kommt wegen des Geschmacks: „Hier gibt es Salat, den mag ich gern und den gibt’s zu Hause nicht so oft.“ Dass Vitamine im Essen wichtig sind, weiß er auch schon. Heute faszinieren ihn allerdings besonders die Schoko-Marienkäfer, die als Deko zwischen den Tellern verteilt sind. „Mir hat jemand erzählt, dass die Glück bringen“, erklärt er, „und ich habe früher auch schon mal einen gegessen.“ Hat er Glück gebracht? „Nein, aber damals wusste ich ja auch noch nicht, dass die Glück bringen“, so Mehmet.
Irgendwann drehen sich die Gespräche darum, wer die meisten Kartoffelpuffer geschafft hat. Die Angaben reichen von konservativ geschätzten zwei, vehement vertretenen vier bis zu unrealistischen Zahlen im mehrstelligen Bereich. Die zehnjährige Melek hat vier geschafft. „Zu Hause ist das Essen auch lecker, nur anders, kurdisch eben“, sagt sie. Besonders mag sie in Weintraubenblätter gewickelten Reis. Und ein Festtagsgericht, das süß ist und mit Nüssen gemacht wird.
[BILD=#kind3][/BILD]Abrupt brechen die Gespräche ab, als das „Menüpunkt“-Team den Nachtisch serviert: Eis, was auch sonst an einem strahlenden Sonnentag. Friedliche Stille, bis auf das Geräusch von 15 Löffeln, die auf die Porzellanteller treffen und dann auf ihnen entlang schaben, um möglichst viel auf einmal aufzunehmen.
Nach etwas mehr als einer Stunde ist das Menü beendet. Zana ist wieder bei seinen Fußballkumpels, Mehriban schiebt ihre kleine Schwester im Kinderwagen an der Straße entlang. Dem Eismann sei Dank: Mittlerweile schlecken auch draußen viele Kinder ein Eis in der Sonne. Im Holzhaus mit den gelben Fensterläden wird gefegt. Sabine Will erzählt, dass Kinder- und Jugendarbeit im Viertel nicht immer leicht ist. Dass es auch beim „Menüpunkt“ manchmal Streit gibt, vor zwei Wochen zum Beispiel, als kurdische und türkische Gäste aneinander gerieten. Dass manche Kinder in den Familien vernachlässigt werden und auch Gewalt erleben.
Plötzlich lugt ein kleines Mädchen durchs Fenster in die Küche. Sie ist vielleicht vier oder fünf und ist neugierig, was denn im Haus vor sich geht. Sabine Will muss sie vertrösten: „Heute gar nichts mehr.“ Aber sie lädt die Kleine für eine der nächsten Wochen ein. Das Mädchen strahlt und verschwindet in Richtung Spielplatz. Manchmal ist Kinder- und Jugendarbeit eben doch ganz leicht.