Mobilitätsforscher Christoph Aberle und Studentin Franziska Havemann haben armutsbetroffene Hamburger:innen zum 9-Euro-Ticket befragt. Hier erklären sie, wie ein gerechter ÖPNV in Hamburg künftig aussehen könnte.
Hinz&Kunzt: Das 9-Euro-Ticket hat armutsbetroffenen Menschen „eine unbekannte Freiheit und mehr Teilhabe“ gebracht, sagen Sie. Was heißt das konkret?
Christoph Aberle: Das kann ich sehr gut an einer Befragten festmachen, einer Frau Anfang 30, die aus Somalia nach Hamburg geflüchtet ist. Sie hat gesagt: „Ich war drei Monate nur auf Achse.“ Sie musste endlich mal nicht aufs Geld achten. Plötzlich war diese Schranke im Kopf nicht mehr da.
„Schranke im Kopf“ heißt: Kann ich mir diese Fahrt überhaupt leisten?
Aberle: Genau. Wir haben mehrfach gehört: „Am Monatsende muss ich mich entscheiden, ob ich mir etwas zu essen kaufe oder einen Fahrschein.“ Das finde ich erschreckend. Wir wissen aus unserer Vorgängerstudie auch, dass Menschen mit wenig Geld oft keine Abo-Tickets kaufen, sondern lieber Einzelfahrkarten in bar. Damit stückeln sie sich über den Monat. Sie wollen keinen festen Betrag versenken, sondern am Monatsende möglichst noch Geld übrighaben, um damit Lebensmittel kaufen zu können.
Franziska Havemann: Geld ist ein Riesenthema. Ich habe auch mit mehreren älteren Damen gesprochen, die Großmütter sind. Die haben davon berichtet, dass sie mit dem 9-Euro-Ticket ja Geld gespart haben. Sie haben direkt überlegt, was sie davon für ihre Enkel kaufen können.
Laut HVV waren nur 4 Prozent der Fahrten mit dem 9-Euro-Ticket weiter als 100 Kilometer. Die Menschen sind damit einkaufen und zum Arzt gefahren oder sie haben Freunde besucht?
Aberle: Ja, eine Strecke wie von Hamburg nach Garmisch Partenkirchen, wie es Journalist:innen aus Neugier gemacht haben, ist in unserer Studie die Ausnahme gewesen. Ein Befragter war mit dem 9-Euro-Ticket mal an der Ostsee und in Lüneburg.
Havemann: Einer Frau aus Lurup war es sehr wichtig, dass ihre Kinder auch mal hinauskommen. Das hieß für sie: mal die Alster sehen, auf anderen Spielplätzen spielen.
Die Sozialbehörde will das neue deutschlandweit gültige 49-Euro-Ticket mit dem Sozialrabatt auf rund 25 Euro vergünstigen. Reicht das?
Havemann: Das entspricht ziemlich exakt dem Mittelwert des Betrags, den unsere Befragten als Schmerzgrenze genannt haben. Keiner hat gesagt, dass er das Ticket weiterhin für 9 Euro oder umsonst haben möchte. Es war den Menschen sehr wichtig, dass sie bereit sind, dafür etwas zu zahlen – nur eben nicht 49 Euro.
Aberle: Wobei ich an dieser Stelle mal der Politik den Rücken stärken will. Ich weiß, dass Hinz&Kunzt ja eher lieber mal draufhaut – zu Recht. Aber wenn der Sozialrabatt weiterhin in bekannter Höhe gezahlt wird, dann ist das natürlich eine enorme Erleichterung. Wenn wir dann bei unter 25 Euro für ein Abo-Ticket im Monat sind, schaffen wir damit Möglichkeiten, die vor einem Jahr noch undenkbar gewesen sind.
Organisationen wie der Paritätische Wohlfahrtsverband, der Sozialverband Hamburg und die Initiative „HVV Umsonst!“ fordern hingegen ein 0-Euro-Ticket. Was halten Sie davon?
Aberle: Ganz pauschal halte ich davon nichts, weil es die Botschaft vermittelt, dass Verkehr ohne Aufwand stattfindet. Nehmen wir nicht nur den finanziellen, sondern auch den Energieaufwand: Wenn wir ein kostenloses Angebot bereitstellen, implizieren wir, es wäre kostenfrei. Mir fehlt da einfach der Aspekt der Verkehrsvermeidung. Wir sprechen über Klimakrise, Gasknappheit und Energiesparen, da wäre es ein falsches Signal, energieintensiven Verkehr kostenlos bereitzustellen.
Auch nicht für die Menschen, die armutsbetroffen sind?
Aberle: Für Menschen in Armut bin ich absolut dabei, mindestens eine Rabattierung auf 25 Euro vorzunehmen. Das lässt sich auskömmlich finanzieren, etwa indem wir die 31 Milliarden Euro klimaschädlicher Subventionen umwidmen, die allein im Verkehrssektor jedes Jahr bundesweit fließen. Oder schauen wir nach Spanien: Dort ist das Nahverkehrs-Abo vorübergehend kostenfrei, weil die Regierung eine Steuer auf Zufallsgewinne der Ölkonzerne erhebt.
Was bräuchte es denn für einen gerechten ÖPNV für alle?
Havemann: Der Preis ist natürlich ein Thema. Aber auch eine gute verkehrliche Anbindung. Gerade ältere Leute fühlen sich durch die Streichung von Buslinien abgehängt.
Aberle: Wobei es nach unserer Untersuchung per se nicht so ist, dass in den armen Stadtteilen weniger Busse fahren würden. Oft leben in den dicht besiedelten Gebieten mehr Menschen, die sich den Linienbus teilen müssen, der dann voller ist, was dann zu dem Empfinden führt: „Wir sind hier nicht im Fokus der Aufmerksamkeit.“ Eine der zentralen Empfehlungen unserer Vorgängerstudie ist, das HVV-Tarifsystem mit seiner verwirrenden Logik aus Zonen und Ringen zu vereinfachen. Dafür ist jetzt der ideale Zeitpunkt, und das sieht glücklicherweise auch der HVV so.