Fast drei Wochen später als geplant eröffnet die Stadt eine neue Tagesaufenthaltsstätte für Obdachlose. In der Markthalle sollen sich bis zu 200 Menschen gleichzeitig aufwärmen können und ein Mittagessen bekommen. Nicht nur die Linke findet das angesichts der Coronapandemie riskant.
Auf dem Boden geklebte Pfeile weisen den Weg zum großen Konzertsaal der Markthalle – ein Einbahnstraßen-System soll verhindern, dass Menschen sich zu nahe kommen. Wo sonst bis zu 1000 Gäste dicht an dicht ihre Lieblingsband feiern, stehen in 1,50 Meter Abstand rund 20 Tische mit je ein bis zwei Stühlen für hungrige Gäste bereit. Fenster gibt es nicht, doch hat der Clubbetreiber in den Ecken des Raums Luftfilteranlagen aufgebaut, die zusätzlich zur bestehenden Lüftung Viren absaugen sollen. Im Kunstraum ein Stockwerk höher sollen Obdachlose sich ausruhen können, im „Marx“, wo sonst Newcomer auftreten, Frauen unter sich bleiben. Zudem will die Stadt Beratung anbieten.
Bis zu 200 Obdachlose gleichzeitig sollen sich mit Abstand in den Räumen nahe des Hauptbahnhofs erholen können. „Wir haben verschiedene Aufenthaltsbereiche, dementsprechend wird sich das verteilen“, sagte Markthallen-Geschäftsführer Mike Keller bei einem Ortstermin mit Hinz&Kunzt vor wenigen Tagen. Bei 80 Prozent Umsatzverlust im Vergleich zum Vorjahr freut sich der Clubbetreiber, dass er Obdachlosen helfen kann, indem er seine Konzert-Location an die Stadt vermietet: „So kommen wir, gemeinsam mit der Kurzarbeit, auf jeden Fall über den Winter.“ Das Mittagessen liefert ein Caterer an, Wach- und Reinigungsdienste organisiert ebenso wie die Sozialberatung der städtische Unterkunftsbetreiber fördern&wohnen. „Die zentrale Lage hat uns überzeugt. Und dass hier so schön viel Platz ist“, sagte dessen Sprecherin Susanne Schwendtke.
„Mir ist schleierhaft, wie in einer Konzerthalle ohne Fenster Hygieneregeln eingehalten werden können.“– Stephanie Rose, Linke
Aber reicht dieser Platz aus, um 200 Menschen in Zeiten der Corona-Pandemie vor einer Infektion zu schützen? Andrea Hniopek von der Caritas fordert ein grundsätzliches Umdenken von der Stadt: „Wir alle sind gehalten, unsere Kontakte auf ein absolutes Mindestmaß zu beschränken. Von daher finde ich es bemerkenswert, dass für obdachlose Menschen diese Regelung weder am Tag noch in der Nacht gilt“, so die Leiterin des Fachbereichs Existenzsicherung. Alle Menschen hätten einen Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben in eigenen vier Wänden. „Ein erster Schritt wäre, dass die Menschen auch tagsüber in ihrer Schlafunterbringung bleiben können.“
Auch die Linke hält den Infektionsschutz in der Markthalle für unzureichend: „Mir ist schleierhaft, wie in einer Konzerthalle ohne Fenster Hygieneregeln eingehalten werden können, während alle anderen Tagesaufenthaltsstätten nur eingeschränkt öffnen können“, sagte die sozialpolitische Sprecherin der Fraktion Stephanie Rose. „Wir fordern daher kleine und dezentrale Angebote.“
Bevor die Stadt im Oktober den Standort der neuen Winter-Tagesaufenthaltsstätte bekanntgab, hatte sie monatelang erfolglos Alternativen geprüft, darunter eine Unimensa und die Messehallen. Aufenthaltsräume für Obdachlose fehlen mehr denn je, da die meisten Tagesaufenthaltsstätten ihr Angebot wegen der Pandemie eingeschränkt haben.