Eine Ottenser Kirche wird einmal im Jahr zum Narrenschiff.

Konfetti auf der Kanzel

„Dass Herz und Seele sich erfreu’, darauf gleich dreimal das Ahoi!“: Gemeindepastor Frank Howaldt und sein Kollege Matthias Lemme (im Hintergrund) beim Karnevalsgottesdienst im Februar 2023. Foto: Dmitrij Leltschuk

Die Kirche als Narrenschiff: Seit 20 Jahren treffen sich in Ottensen Karnevalfans zum Gottesdienst.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Ein weißhaariger Bischof mit rot-goldener Mitra sitzt im Sonntagsgottesdienst. Neben ihm eine verhüllte Nonne in Ordenstracht. Und ein paar Reihen weiter ein Mönch in brauner Kutte. Soweit das Heimspiel. Aber die Gemeinde in der Ottenser Christianskirche ist ja viel bunter heute. Dicht an dicht in den Bänken: Feuerwehrleute und Bäcker, Hexen und Piraten, der Teufel höchstselbst! Dazwischen mal ein Flamingo, ein Zebra, Bären, Elefanten …

Halleluja! Wenn das Kirchenschiff zum Narrenschiff wird, dann ist wieder Karnevalsgottesdienst in Hamburg. Seit zwei Jahrzehnten lockt das Event Jecken in die evangelische ­Kirche am Anfang der Elbchaussee. Immer am Sonntag vor Rosenmontag zur traditionellen Gottesdienstzeit um zehn Uhr. Eine närrische Oase im karnevalistisch kargen Norddeutschland, ­eine schrille Mischung aus Prunk­sitzung und Andacht. Mit Schunkel­liedern und Segen, Konfetti und Gebet. Gekrönt vom Zug der Kostümierten durch die Kirche.

Zwei Jahre lang war allerdings Schluss mit lustig, erzählt Gemeindepastor Frank Howaldt: 2021 wegen ­Corona, 2022 wegen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, der wenige Tage zuvor begonnen hatte. Doch im Februar 2023 meldete sich das göttliche Spektakel mit „Doppelwumms“ zurück (in Anspielung auf ein markiges Wort von Bundeskanzler Scholz).

Um kurz vor zehn wird schon geklatscht und geschunkelt. Dann ruft Kirchenmusiker Igor Zeller vom Flügel: „Einzug unserer jecken Pastoren! Begrüßt sie mit einem Narrhalla-marsch!“ Die beiden tragen weiße ­Talare mit bunter Stola. Frank Ho­waldt hat sich eine Hamburg-Flagge umgehängt und eine grün-rot-gelbe Narrenkappe aufgesetzt. Matthias Lemme tritt mit Europa-Flagge und rotem Glitzerhütchen auf.

Infos

Ottenser Karnevalsgottesdienst: Sonntag, 11. Februar, 10 Uhr, Christianskirche am Klopstockplatz, www.kirche-ottensen.de

Mit ihnen zieht eine Delegation der „Moorreger Karnevalisten“ ein, einschließlich Jugendprinzessin und Funkenmariechen. Die organisierten Narren aus dem Kreis Pinneberg sind seit einigen Jahren zu Gast im Gottesdienst. 180 Mitglieder im Alter von 4 bis 92 Jahren gehören zum Verein, hat Vizepräsident Andreas Fricke vorab erzählt. Seine Frau Stephanie, die heute als Erdbeere geht, wird später Bonbons an die Kinder verteilen.

Taktgeber des turbulenten Gottesdienstes ist Kirchenmusiker Zeller. Er wuchs mit der hessischen Fastnacht auf und verfiel dem Karneval am ­Studienort Köln. Zu Beginn seiner Hamburger Zeit machte er gleich eine Ansage für den Dienstplan: Nein, kein Orgelspiel am Sonntag vor Rosen­montag, da sei er beim Karnevals­gottesdienst in Köln.

„Das können wir auch“, dachten sie sich in Ottensen – und legten schon mal los. „Es hat mehr und mehr ­gefunkt“, erinnert sich Howaldt. Zunächst seien nur die Kinder verkleidet gewesen, dann mehr und mehr auch Erwachsene. Igor Zeller blieb schon bald in Hamburg – und heizt seitdem beim Karneval in der Diaspora musikalisch ein.

Aber Verkleidung und ausgelassenes Feiern in einer Kirche – ist das nicht Teufelszeug? Historisch ist die Verbindung eng, denn der Karneval ist sozusagen das ungezogene Kind der katholischen Kirche. Einst galt vor ­Ostern eine 40-tägige Fastenzeit. Und bevor die begann, durfte das Volk noch mal ordentlich zulangen. Die kirch­liche Obrigkeit duldete die tollen Tage – Hauptsache, am Aschermittwoch war alles vorbei. Und so hängt das Datum des Karnevals bis heute am Datum des (beweglichen) Osterfests.

Und die Reaktionen in Ottensen? „Klar, hin und wieder sind Leute gegangen“, sagt Pastor Howaldt. Aber es sei auch mal ein Paar hineingeraten, das er dann ein Jahr später getraut habe.

Auf der barocken Kanzel setzt Howaldt inzwischen zur Büttenpredigt an. Komplett gereimt geht es um Krisen in der Welt und um Auswege aus düsterer Stimmung („Der Kopf erstarrt und auch das Herz, was uns jetzt hilft, das ist der Scherz.“). Howaldt handelt Solidarität, Egoismus und Doppelmoral ab, blickt auf die Corona-zeit zurück und entlarvt das Hamburger Wetter als „Vollverschwörung“ – wobei er die Narrenkappe kurz gegen einen Aluhut tauscht. Viele Lacher sind dem närrischen Prediger sicher, der auch vor flachen Witzen nicht zurückschreckt. Zwischendurch wirft er Konfetti von der Kanzel und fordert von der Gemeinde ein „dreifach donnerndes Ahoi“.

Danach beginnt zu Musik und rhythmischem Klatschen der Umzug durch die Kirche. Pastor und Vereins-karnevalist:innen vorweg, die Gemeinde schließt sich an, eine bunte Polonaise schunkelt und schaukelt durch die heiligen Hallen. Doch bei allem Trubel: Es bleibt ein Gottesdienst. Bei Fürbittengebet (gereimt) und Vaterunser (traditionell) ist es still in der Kirche. Die Kollekte wird für die Diakonie-­Katastrophenhilfe gesammelt. Und am Schluss steht der Segen.

Danach dreht die Band noch mal auf, der energiegeladene Kirchenmusiker springt zu „Viva Colonia“ durch den Altarraum, die Leute schwenken die Arme zu weiteren Schunkelschlagern und klatschen zum Lokal-Klassiker „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“. Ein allerletztes, nun besinnliches Lied lobt den Zusammenhalt im „Veedel“, wie das Stadtviertel auf Kölsch heißt. Und dann ertönt in rheinisch-hanseatischer Harmonie der Ruf: „Ottensen, wir jonn na Hus.“

Bischof und Bär, Hexe und Nonne verlassen die Kirche, plaudern bei ­einem Kaffee auf dem Vorplatz. In ­anderen Jahren wurde hier auch ein Kölsch gehoben, doch 2023 fehlten ­Ehrenamtliche für den Ausschank. Aber vielleicht in diesem Jahr. Die ­Kirchengemeinde lädt jedenfalls wieder ein, diesmal unter dem Motto: „Friede sei mit euch und Gnade, denn alles andere wäre …“

Artikel aus der Ausgabe:

Hamburg, kannst du Karneval?

Pünktlich zum Karneval wird aus einem Gottesdienst in Ottensen eine rheinische Prunksitzung. Hinz&Kunzt hat sich unter die Jecken gemischt. Außerdem: Tod und Trauer im Schwerpunkt. Ein Besuch im Hospiz. Bei einer Bestatterin. Und die Spurensuche nach einem verstorbenen Hinz&Künztler.

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Autor:in
Detlev Brockes

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