Schnaps für Westafrika, ein Platz an der Sonne und warum August Bebel ein Held war: Der Autor Dietmar Pieper erzählt so packend wie klug von der Kolonialgeschichte Hamburgs.
Fahnen und Girlanden wehen. Die Leute drängeln sich auf dem Kai des Baakenhafens. Hamburgs Bürgermeister ist mit Gefolge zur Stelle, ebenso sein Kollege aus dem preußischen Altona. Hüte werden in die Luft geworfen, Hurra-Rufe ertönen, eine Kapelle spielt „Deutschland, Deutschland über alles“. Ein Dampfer der Hamburger Reederei Woermann hat an diesem 15. Dezember 1905 angelegt, an Bord Marinesoldaten unter Führung von Lothar von Trotha. Sie sind zurück aus der Kolonie Deutsch-Südwestafrika und werden in Hamburg als Sieger gefeiert. Mit unfassbarer Gewalt haben von Trotha und seine Truppen einen Aufstand bekämpft und Zehntausende Menschen vom Volk der Herero und Nama getötet. Davon erzählt der Hamburger Autor Dietmar Pieper – und wie es dazu gekommen ist. Untertitel seines Buches: „Wie hanseatische Kaufleute Deutschland zur Kolonialherrschaft trieben“.
Ich treffe Dietmar Pieper in der Speicherstadt. Wir mischen uns unter die Tourist:innen, legen wie sie den Kopf in den Nacken, um die Backsteinbauten zu betrachten. Was man durchaus genießen kann, wenn man verdrängt, wie dieser hier sichtbare Reichtum zustande gekommen ist: dank des Kolonialhandels, in dem Hamburg als Hafenmetropole eine wichtige Rolle spielte.
Dietmar Pieper hat um die Ecke jahrzehntelang als Journalist beim Spiegel gearbeitet. Hat aus dem Fenster auf die Speicher geschaut, ist ab und an in der Mittagspause den Sandtorkai entlanggeschlendert. Fing dann vor etwa zehn Jahren an, sich für die Kolonialgeschichte der europäischen Staaten zu interessieren; also für die der Kolonialmächte Spanien und Portugal, dann für Frankreich und die Niederlande und schließlich England. „Wie so viele dachte ich zunächst, dass die Kolonialgeschichte Deutschlands nicht interessant und schlicht zu vernachlässigen sei“, erzählt er. Schließlich hätte das Deutsche Reich kaum Kolonien gehabt, diese ohnehin erst Ende des 19. Jahrhunderts erworben, und 1918 sei mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg schon wieder alles vorbei gewesen. Bis ihm klar wird: Das stimmt überhaupt nicht!
Er hat es ausgerechnet: Als das Deutsche Reich seine Kolonien in Afrika und in der Südsee zusammen hat, ist deren Fläche sechsmal so groß wie die Fläche des Mutterlandes. „Und die Deutschen waren sehr stolz darauf, dass sie so ein großes Kolonialreich hatten; nach dem Motto: Wir kamen zwar spät dazu, aber dann machten wir es gründlich“, sagt Pieper.
Schnell fällt ihm auf, wie wichtig Hamburg dafür war. „Hamburg war schon lange die Hauptstadt des deutschen Kolonialhandels“, sagt er. „Nicht weil hier besonders bösartige und miese Geschäftspraktiken betrieben wurden.“ Sondern weil Hamburg über seinen Hafen an den Atlantik und damit den weltweiten Kolonial- und Sklavenhandel angebunden war. „Als mir das klar wurde, war ich gepackt.“ Er geht in Archive, forscht, liest sich fest. „Die Quellenlage ist sehr gut, es gibt ergiebige Zeitzeugenberichte“, sagt er. Die, die dabei waren, seien darauf stolz gewesen und hätten vieles aufgeschrieben.
Die landläufige Vorstellung vom Kolonialismus sei ja: Ein König- oder Kaiserreich schickt seine Kanonenboote los, man erobert Land und unterwirft die dortige Bevölkerung. Ist das erledigt, kommen die Kaufleute, errichten Handelsposten und beginnen mit ihren Geschäften. Aus Piepers Buch erfährt man: Es war genau umgekehrt. Hamburger Kaufleute wie Heinrich Carl von Schimmelmann oder Adolph Woermann schickten von sich aus ihre Schiffe nach Übersee, auf der Suche nach Rohstoffen und nach Menschen, die möglichst umsonst für sie arbeiten sollten, dabei aller Rechte beraubt. Um das durchzusetzen, fordern die Kaufleute im 19. Jahrhundert immer lauter militärischen Schutz von der Reichsregierung, die schließlich zustimmt und Polizei und Soldaten schickt. „Der Handel kommt zuerst, danach die Politik“, sagt Pieper.
Er wolle da gar nicht hart moralisch urteilen: „Leute wie Schimmelmann oder Woermann waren hervorragende Geschäftsleute, sie waren aber völlig skrupellos.“ So bauten sie in kurzer Zeit ihre Handelsgeschäfte auf, bald getragen von einer wachsenden Kolonialbegeisterung in der Bevölkerung des 1871 entstandenen Deutschen Reiches. Endlich gehörte man zu den großen Mächten. Oder, wie es der damalige Staatssekretär und spätere Reichskanzler Bernhard von Bülow formulierte: „Wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“
Platz an der Sonne? War das nicht lange der Slogan der ARD-Fernsehlotterie? „Ich denke, das war damals reine Gedankenlosigkeit“, sagt Pieper. Wie einem überhaupt manches auffalle, schaue man genauer hin: „Lange habe ich das Wort ‚Kolonialwarenladen‘ ganz unbefangen benutzt; da roch es nach Kaffee, nach Gewürzen, so kam der Duft der großen weiten Welt ins Land, das war die etwas naive Seite des Ganzen“, erzählt Pieper.
Es gab seinerzeit aber auch Gegenkräfte. Etwa christliche Gruppen, die nicht hinnehmen wollten, dass Hamburger Kaufleute besonders die Küstengebiete der werdenden Kolonie Kamerun mit billigem Schnaps fluteten. „Das Feuerwasser“, sagt Pieper und lacht. Hauptsächlich Branntwein wird damals über den Hamburger Hafen Richtung Westafrika verschifft. Was heute kaum noch bekannt ist: In Hamburg, Wandsbek und Altona florierte die Schnapsfabrikation. Reichskanzler Otto von Bismarck unterhielt ebenfalls vier Brennereien. Pieper zitiert eine Erklärung Adolph Woermanns, warum Schnaps so nötig ist: „Ich meine, dass es da, wo man Zivilisation schaffen will, hier und da eines scharfen Reizmittels bedarf.“
Dann sind da noch die Sozialdemokraten, die immer wieder die Kolonialpolitik der Reichsregierung kritisieren und ihr Ende fordern. Ihre Empörung bündelt sich im Februar 1894 im Berliner Reichstag. Bevor der SPD-Politiker August Bebel seine Rede beginnt, legt er eine Nilpferdpeitsche auf den Tisch. So etwas hat noch niemand im Parlament gesehen. In den Kolonien aber kennen alle diese Peitschen, angefertigt aus der harten Haut von Nilpferden. „August Bebel ist für mich der Held in dieser Geschichte, weil er schon damals die Kolonialverbrechen so weitsichtig erkannt und auch benannt hat“, sagt Pieper.
Eine andere interessante Figur wurde für Pieper Caspar Voght (1752–1839). Aus dessen Ländereien entlang des Elbufers entstand unter anderem der heutige Jenischpark und nach ihm ist die Baron-Voght-Straße an der Elbchaussee benannt. „Voght ist in die Hamburgische Geschichtsschreibung als der Aufklärer und Wohltäter seiner Zeit eingegangen; dass er zugleich ein knallharter Geschäftsmann und ausbeuterischer Kolonialkaufmann gewesen ist, fiel einfach weg.“ Dafür habe Voght übrigens selbst gesorgt: „Er hat sich in seinen Memoiren sehr geschickt inszeniert, und das wurde eins zu eins übernommen.“
Haben ihn seine Erkenntnisse persönlich mitgenommen? Dietmar Pieper schüttelt den Kopf: „Da war schon eine gewisse Distanz. Denn worüber ich berichte, ist lange her und es geht auch nicht um Vorfahren von mir.“ Er sei sich eher vorgekommen wie ein Anatom, der etwas seziere. „Das klingt jetzt nicht schön, aber ich sage es trotzdem: Ich habe umgekehrt manchmal eine gewisse Finderfreude gefühlt; etwa wenn ich bei der Recherche ein schreckliches Detail entdeckt habe.“ So, als er im Zusammenhang mit den schon erwähnten Nilpferdpeitschen auf einen Briefwechsel damaliger Kolonialbeamter stößt, in dem diese sehr ausführlich darüber debattieren, ob man statt der Peitsche nicht besser ein langes Stück Tau zur Züchtigung nehmen sollte; das Tauende in Teer getaucht, damit es nicht zu locker ausfranst. „Das ist brutal und grausam. Aber als ich las, wie sachlich sich deutsche Bürokraten damals darüber austauschten, welche Arten von Verletzungen wie entstehen und wie schnell die Gezüchtigten wohl wieder arbeiten könnten, dachte ich: Das ist ja unglaublich anschaulich; das kann man sich gar nicht ausdenken, das musst du erzählen“, sagt Pieper.
Wie überhaupt sein Buch die Kolonialgeschichte Hamburgs sehr erlebbar macht: „Ich wollte Geschichte in Geschichten erzählen und kein akademisches Buch schreiben, das man nur mühsam liest.“ Stoff auch für die Debatte um künftige Umbenennungen von Straßen. Schließlich gibt es etwa in Jenfeld noch immer die Schimmelmannallee. Im Bezirk Nord sollen dagegen der Woermannsweg und der Woermannstieg umbenannt werden. Pieper sagt: „Die Beschäftigung und die Auseinandersetzung mit Hamburgs Kolonialzeit hat noch gar nicht richtig angefangen!“