St. Pauli : Kleine Freiheiten in der Kleinen Freiheit

Der Stadtteil St. Pauli gilt als Paradebeispiel für die Vertreibung der angestammten Bewohner. Doch in einer Seitenstraße leben junge Kreative und alteingesessene Handwerker gut nebeneinander. Fotografin Tanja Birkner hat sich umgeschaut.

(aus Hinz&Kunzt 240/Februar 2013)

Markus Hintze war lange arbeitslos. Dann erhielt der alleinerziehende Vater das Angebot, einen seit Jahrzehnten gut eingeführten Schusterladen zu übernehmen. Eines aber musste er dem Vorbesitzer versprechen: nicht gleich den Laden komplett zu renovieren und alles umzugestalten. Sondern erst nach und nach.

Der Gemüsemann wollte sich nicht fotografieren lassen. Da war nichts zu machen! Aber alle anderen Ladeninhaber in der Straße Kleine Freiheit auf St. Pauli haben der Fotografin Tanja Birkner bereitwillig ihre Türen geöffnet: ein Schuster, ein Waschmaschinenhändler und junge Produktdesigner. Wobei die Fototermine mit dem Änderungsschneider Kosta Kouroupis nicht ganz einfach waren: „Kosta ist ein hochkarätiger Schneider“, erzählt sie. „Da kam alle zehn Minuten ein Kunde und dann mussten wir wieder eine Pause einlegen.“

Kleine Freiheit? Man kennt die Große Freiheit mit ihren Sexclubs, Diskotheken, Bars und den Menschenmassen, die sich dort nicht nur am Wochenende entlangschieben. Um die Ecke rauscht der Verkehr vierspurig über die Holstenstraße, über die Reeperbahn. Und zwischendrin eine ruhige Kopfsteinpflasterstraße, eine Sackgasse, in der Mitte ein weithin sichtbares Hochhaus, klobig und trist, das schon für manchen abendfüllenden Fernsehkrimi als Kulisse für Mord und Totschlag herhalten musste.

Tanja Birkner hat erst Passanten angesprochen, hat sich erzählen lassen, wie man hier so lebt. Dann fielen ihr die vielen kleinen Läden auf, die es dort gibt: knappe 50 Quadratmeter groß und einfach verglast. Ihre Frage, die sie allen stellte: „Was ist Ihre kleine Freiheit?“ Im PopUpStore Showroom, der mal Galerie, mal Atelier, mal Werkstatt ist, antwortete man ihr: „Wir wollen glücklich sein und andere beglücken“.

Apropos Glück: Tanja Birkner blickt sehr zufrieden auf das kleine Fotobuch, das am Ende entstanden ist: „Mir hat diese Arbeit sehr viel Spaß gemacht, denn es war endlich mal ein ganz leichtes Fotoprojekt.“ In der Tat: Ihre anderen Projekte haben ein anderes Gewicht. Ihre Wanderausstellung „… ein Haus auf Hawaii“ mit Porträts von Mädchen für die NGO Eine Welt Netzwerk entstand in einer Flüchtlingsunterkunft in Burgwedel bei Schnelsen.

Danach porträtierte sie traumatisierte Jugendliche, die aus dem Kosovo, Afghanistan oder Westafrika zu uns geflohen waren. „Es geht mir meist um Menschen, die am Rande stehen. Die Bewohner in der Kleinen Freiheit haben natürlich auch ihre Sorgen, aber es sind keine schweren Schicksale.“ Sie hat jeweils lange gebraucht, bis sie das Vertrauen der Jugendlichen gewinnen konnte – und das ist auch in Ordnung: „Man denkt immer, ach, ein Foto, das geht doch ganz schnell. Aber ich frage mich immer wieder neu, wie zeigt man Menschen, ohne sie vorzuführen? Wie schaffe ich ein Bild, auf dem sie ihre Würde behalten?“

Ihr Fotoprojekt über die Kleine Freiheit hat auch noch einen anderen, ganz persönlichen Bezug: Es ist ein Versuch, sich ihre Hamburgliebe nicht nehmen zu lassen. Denn Tanja Birkner stammt ursprünglich aus Lübeck. 1999 kommt sie nach Hamburg, freut sich auf die Großstadt mit ihrer Vielfältigkeit, mit ihren Möglichkeiten: „Mit Blick aus Lübeck fand ich Hamburg immer toll.“ Sie wohnt zunächst in der Großen Brunnenstraße, in einer Fabriketage, in einer Riesen-WG: „Damals war Ottensen noch charmant, nicht so schick wie heute.“ Und sie merkt, wie sich die Stadt insgesamt immer mehr verändert: „Das, was heute alle ‚Gentrifizierung‘ nennen, fing für mich an mit der Bebauung des Elbweges zwischen dem Fischmarkt und Övelgönne. Ich hab mich damals gefragt: Wieso baut ihr alles zu? Und das mit dem Zubauen reißt seitdem ja nicht ab.“ Heute sagt sie: „Die Stadt geht mir manchmal irre auf den Keks und ich muss sagen, je länger ich hier wohne, umso weniger bleibt diese Liebe noch bestehen.“ Von daher ist ihr Projekt auch der Versuch, zu zeigen, dass es trotzdem noch schöne Ecken gibt und dass traditionell Gewerbetreibende und junge Kreative beide ihren Platz haben. Sie ist optimistisch, dass die Kleine Freiheit ihren oft spröden Charme behält: „Die Gegend ist nicht angesagt. Es gibt hier keine Lofts unterm Dach, die man teuer vermieten könnte. Es ist eine typische Nebenstraße geblieben.“

Auf jeden Fall passt es, dass sie ihre Fotografien nicht in einer coolen Galerie ausstellt, sondern in dem Laden „Kleine Freiheit Nr. 1“, den sich eine Modedesignerin, eine Pädagogin, eine Stylistin und eine Grafikdesignerin teilen: „Für mich war von Anfang an klar, dass ich die Bilder dort zeige, wo sie entstanden sind.“ Getränke gibt es nebenan „Bei Erna“, und auch dazu gibt es sofort eine Geschichte: „Erna lebt nach einem Schlaganfall in einem Nebenzimmer ihrer Kneipe. Sie kann nicht mehr selbst am Tresen arbeiten, aber sie hat zwei junge Männer, die das für sie machen. Das fand ich sehr eindrucksvoll: dass Erna nicht nur wertgeschätzt, sondern dass sie auch tatkräftig unterstützt wird.“

Text: Frank Keil
Fotos: Tanja Birkner 

Vernissage und Katalogpräsentation: Sa, 9.2., 19 Uhr, im PopUp-Store Showroom, Kleine Freiheit Nr. 1; Öffnungszeiten: Mi–Fr, 13–19 Uhr, Sa, 12–19 Uhr; die Ausstellung endet am 2. März.