Der Film „Kippa“ erzählt im Miniaturformat, wie Juden in unserer heutigen Gesellschaft zu Fremden gemacht werden. Realistisch, findet ein Hamburger Rabbi. Nun hat der Kurzfilm von Lukas Nathrath den Nachwuchspreis von Studio Hamburg gewonnen.
Eigentlich ist Oskar ein beliebter Typ an seiner Schule. Der 14-Jährige ist fair und humorvoll, ein guter Sportler und Freizeit-Rapper. Doch als er beiläufig erwähnt, dass er Jude ist, ändert sich alles. Auf einmal wird er schräg angeguckt, seine Mitschüler tuscheln, reißen Judenwitze. Oskar geht nicht darauf ein. Sie treten ihn, er wehrt sich, doch das Mobbing hört nicht auf. Als sie ihm eine Kippa auf den Kopf setzen, begreift Oskar: Den Stempel wird er nie mehr los.
Oskar ist die Hauptfigur aus Lukas Nathraths Film „Kippa“. Der 25-Minüter entstand als Abschlussarbeit seines Studiums an der Hamburg Media School und wird in höchsten Tönen gelobt: Beim Studio Hamburg Nachwuchspreis hat er am Donnerstag in der Kategorie „Bester Kurzfilm“ gewonnen, die Civis Medienstiftung prämierte ihn zuvor bereits als besten Nachwuchsfilm. „Ein brisantes Thema, hochaktuell“, befand die Jury.
Es geht um Antisemitismus heute – und um gnadenlose Ausgrenzung. Für Oskar geht alles rasend schnell. Die Jungs, mit denen er wenige Tage zuvor noch Fußball spielte, wählen ihn im Sportunterricht nicht mehr ins Team. Sein bester Freund will nichts mehr mit ihm zu tun haben. Plötzlich soll sich Oskar rechtfertigen: für das teure Auto seiner Mutter, für die Siedlungspolitik der israelischen Regierung.
Regisseur Lukas Namrath: „Er wird zum Anderen gemacht“
Seine Religion gilt nicht, wie bei den anderen, als persönliche Sache. Für seine antisemitischen Mitschüler wird der Jude Oskar zum Feind. Obwohl er sich selbst gar nicht als anders begreift, erklärt der Autor und Regisseur Lukas Nathrath gegenüber Hinz&Kunzt: „Er wird erst zum Anderen gemacht, weil er diese Religion hat.“
Moshe Navon, Landesrabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hamburg, hat den Film gesehen. Es sei schmerzlich gewesen, sagt der Rabbi: „Weil er realistisch ist.“ Ausgrenzung und Gewalt kennt er aus eigener Erfahrung – aus seiner Kindheit in der Sowjetunion, aber auch als Vater, dessen Kinder in Deutschland Ausgrenzung erlebt haben. „Du Jude“ wird wieder als Schimpfwort benutzt, auch seine vier Söhne haben es an der Schule gehört. „Plötzlich hatte einer meiner Söhne Angst, in der Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen“, erzählt der Rabbiner.
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Im Bus habe der damalige Fünftklässler sich daher lieber ein Stück von seinen Eltern entfernt hingestellt. „Einmal hat er gesehen, wie ein gewöhnliches deutsches Kind grausam verprügelt wurde“, erzählt der Vater. „Da hat er gedacht: Wenn bekannt wird, dass er Jude ist, dann ergeht es ihm noch schlimmer.“
Für Moshe Navon ist die Kippa ein äußerliches Zeichen seiner Identität. Sie auf der Straße zu tragen, könnte aus seiner Sicht ganz alltäglich sein. In den USA sei es das auch, sagt Navon. In Deutschland nicht. Nicht einmal für einen Rabbi in Hamburg.
Nur nicht auffallen
Beim Gespräch in seinem Arbeitszimmer erklärt Navon, wie er das löst: „Ich habe eine Schutz-Kippa.“ Er holt eine schlichte Kopfbedeckung hervor und setzt sie sich auf den Kopf, über die kleine Kappe mit dem Goldrand. Wie seine Schutz-Kippa aussieht, soll nicht in der Zeitung stehen. „Das ist doch mein Geheimnis“, scherzt der Rabbi. Seine Frau habe sie ihm besorgt. Sie hatte Angst um ihn, nachdem immer wieder Juden auf deutschen Straßen attackiert wurden. Ihm selbst sei das nie passiert, sagt er. Er trage die Schutz-Kippa auch nicht aus Furcht. Und erst recht nicht, weil er seinen Glauben verbergen wolle. Er wolle nur nicht auffallen.
Navon sagt: „Ich möchte nichts Besonderes sein.“ Dass er Jude ist, erfährt nicht jeder, der nach seiner Herkunft fragt. Manchmal antworte er einfach: „Ich bin in Sibirien geboren.“ Dann werde er als Russe wahrgenommen. Er kennt einige in seiner Gemeinde, die es ähnlich halten.
„
Xenophobie ist unsere innere Krankheit.““– Rabbiner Mosche Navon
Nicht einmal die Nachbarn sollen von ihrem Glauben wissen. „Es gibt Menschen, die haben Angst, Mitglied in einer Gemeinde zu sein“, erzählt der Rabbi. Dass Synagogen von der Polizei beschützt werden, sei sehr gut. Aber manchen mache es auch Angst, weil ihnen dadurch die Gefahr bewusster werde.
„Vor der Shoah waren wir Deutsche Kunzt&Kult mit jüdischem Glauben, jetzt sind wir Juden in Deutschland“, sagt er. „Es tut mir leid, aber es ist so.“ Nach wahren Begebenheiten – so hat Lukas Nathrath seinen Film überschrieben. Grundlage war für ihn der Fall Michalski: Ein Berliner Schüler wurde gemobbt und verprügelt, nachdem er im Unterricht erwähnte, dass er Jude sei. Die Gewalt gipfelte in einer Scheinhinrichtung.
Ergebnis jahrelanger Recherche
Zeitungen und Fernsehen berichteten, die Öffentlichkeit reagierte schockiert. Doch auch weniger prominente Geschichten von deutschen Jüdinnen und Juden fließen in den Film ein. „Es ist eben kein Einzelfall“, sagt Lukas Nathrath. „So was kommt in vielen Städten in Deutschland an verschiedenen Schulen vor.“
Der junge Filmemacher weiß, wovon er spricht. Durch Freundschaften seiner Eltern kennt er seit seiner Kindheit jüdische Familien, seine Schwester besuchte einen jüdischen Kindergarten. „Dadurch, dass ich sie da immer abgeholt habe, habe ich dieses Gefühl von Bedrohung selbst wahrgenommen“, erzählt er. „Man ist immer an Polizisten vorbeigegangen.“
Als Filmschüler an der Hamburg Media School holte ihn das Thema wieder ein, als Berichte über antisemitische Übergriffe in Fernsehen und Zeitungen erschienen. Lukas Nathrath vertiefte sich in das Thema. Der kurze Spielfilm „Kippa“ ist ein Ergebnis jahrelanger Recherche.
Wird ein Kind wegen seines jüdischen Glaubens zum Außenseiter gemacht, dann gebe es für die Familie kaum eine andere Wahl, als die Schule zu wechseln, sagt Moshe Navon. Den Schulleitern mache er keinen Vorwurf. Wenn Schüler den Pausenhof dominierten, in deren Elternhäusern offene Feindseligkeit gegenüber Juden normal ist, seien die Lehrer machtlos. Oft komme der Antisemitismus im Schulalltag von Kindern, deren Familien aus osteuropäischen oder arabischen Ländern eingewandert seien. „So sind meine Erfahrungen“, sagt er.
Auch deshalb legt er bei seiner Arbeit in Hamburg Wert auf den Austausch zwischen allen Gläubigen der drei großen Religionen – Juden, Christen und Muslime. In Mümmelmannsberg etwa klappe der Austausch schon ganz gut. „Ich habe verschiedene Erfahrungen gemacht“, sagt der Rabbiner. „Auch positive.“
Der Film „Kippa“ soll eine universelle Geschichte erzählen. Lukas Nathrath sagt: Mit leichten Variationen könnte sie auch an irgendeinem Jungeninternat spielen, „wo entsprechende Männlichkeitsbilder vorherrschen oder bestimmte Hierarchien gelten“. Ihm geht es um Ausgrenzung, Gruppendruck und Macht in einem System, das Einzelnen kaum Chancen lässt.
Schutz für jüdische Gemeinden
Das ist kein alleiniges Merkmal von Antisemitismus, betont auch Rabbi Navon. Er sagt: „Xenophobie ist unsere innere Krankheit.“ Kein Mensch sei davon ausgenommen, jeder müsse sich selbst damit auseinandersetzen. So stehe es auch in der Thora: Du sollst den Fremden lieben wie dich selbst. „Nicht nur deinen Nächsten“, betont der Rabbi. „Den Fremden.“
Ausgezeichneter Kurzfilm
Navon will seine Gemeinde davor schützen, immer mehr zu Fremden gemacht zu werden. Den Antisemitismus auf der Straße könne man kaum bekämpfen, sagt er. „Aber wenn er in staatliche Strukturen vordringt, dann sind wir alle in großer Gefahr.“ Er wünscht sich ein Gesetz, das jüdische Gemeinden in Deutschland unter besonderen Schutz stellt. Und er hofft auf das Verbot aller Parteien, die gegen Ausländer und Andersgläubige hetzen. Es gehe nicht ohne staatlichen Schutz, sagt der Rabbi. Auch wenn er jeden Menschen verstehen könnte, der seine Würde selbst schützen wolle – so wie Oskar im Film.
Am Ende von „Kippa“ sieht es kurz so aus, als könnte der 14-Jährige seine Peiniger mit Selbstbewusstsein besiegen. Aber ist das eine Lösung? Das zu glauben wäre naiv, findet Moshe Navon. Auch Filmemacher Lukas Nathrath sagt: „Ich würde nicht sagen, dass am Ende alles gut ist.“
Der Film soll vielmehr zum Weiterdenken anregen: Was tun wir selbst, wenn andere vor unseren Augen drangsaliert und ausgegrenzt werden? Wozu stehen wir? Und auch: Was bedeutet es, deutsch und jüdisch zu sein? „Für mich ist das noch eine offene Frage“, sagt Moshe Navon. „Vielleicht können meine Söhne eine Antwort finden.“ Und setzt hinzu: „Oder meine Enkel.“