In Winterhude verhelfen Schüler:innen ausrangierten Kleidungsstücken zu einem neuen Auftritt – und setzen der Fast-Fashion-Industrie ihre Kreativität entgegen.
Ein Montagnachmittag an der Stadtteilschule Winterhude. Die Mädels des Nähkurses, 11 bis 13 Jahre alt, versammeln sich um den runden Teppich ihres Klassenraums, im Schneidersitz auf dem Boden, fläzend auf einem der Sofas. „Heute müssen wir uns ranhalten“, kündigt Lehrerin Julia Köster an. „Wir müssen mit unseren Outfits fertig werden.“ Nur noch fünf Wochen, dann steht die Modenschau an. 300 Zuschauer:innen werden erwartet, vielleicht noch mehr. Doch bis auf dem Laufsteg die ersten Models in ihren eigenen Kreationen ins Scheinwerferlicht treten können, ist noch viel zu tun: Farben und Stoffe auswählen, zuschneiden, abstecken, nähen … „Können wir loslegen?“, fragt Farida.
Kurz darauf hat sich das Klassenzimmer in ein Atelier verwandelt. Jeansstoffe, Spitze, Textilfarben und Strass-Steinchen, Garnrollen und Nadelkissen sind über Tische und Sideboards verteilt. Die jungen Designerinnen vergleichen Muster und Farben, auf dem Lehrerpult surrt die Nähmaschine. Manchen Teilen ist noch anzusehen, dass sie mal ganz normale Klamotten von der Stange waren – denn was beim Schulprojekt „PreLoved“ verarbeitet wird, hat eine Vorgeschichte. Gespendete Kleidung aus dem Fundus der Hilfsorganisation Hanseatic Help, die nicht an Bedürftige weitervermittelt wurde, bekommt im Nähatelier der Stadtteilschule einen neuen Touch – Upcycling im modischen wie nachhaltigen Sinne.
„Mich interessiert, wie Klamotten hergestellt werden.“
Schülerin Farida
Pauline, 13 Jahre alt, weiß inzwischen: Das kann in mühselige Handarbeit ausarten. Mit einem Nahttrenner zerteilt sie Stich für Stich die Schrittnaht einer alten Jeans. „Ich mache einen Rock“, erklärt sie. Es ist ihr Plan B, eigentlich habe sie die Hose bleichen wollen, aber das klappte nicht. Also schnitt sie die Hosenbeine ab und entschied sich für die Variante Minirock. „Jetzt muss ich hier alles auftrennen“, murmelt Pauline mit konzentriertem Blick. Auch die elfjährige Rosa ist mit einer Jeans beschäftigt. Einen Riss am rechten Oberschenkel hat sie mit knallrotem Faden zugenäht, daneben prangt ein schwarzes R, ihr Anfangsbuchstabe. Das linke Hosenbein soll vorn eine Reihe Nieten verzieren, aber erst mal ist die Rückseite dran. „Gerade habe ich die Tasche abgemacht“, sagt Rosa. „Da muss ich noch überlegen, was ich damit anfange.“ Sie hält das lose Stück an das T-Shirt, das vor ihr auf dem Teppich liegt. Sieht gut aus.
Faridas Konzept setzt voll auf Spitze. Der Ausschnitt des Hemds, den sie mit der Schere noch etwas weiter geschnitten hat, soll verziert werden. Faridas Schlag-Jeans mit weißem Spitzeneinsatz ist schon halb fertig. Die Hose habe sie mit ihrer Cousine entworfen, erklärt die Elf-jährige. „Die studiert Modedesign hier in Hamburg, und mein Cousin modelt für Brands in Berlin.“ Erfolgreich und berühmt werden in der Fashionwelt – das ist auch Faridas Plan. Mit ihrem Outfit setzt sie ein selbstbewusstes Statement: „Girl“ hat sie in großen, rosa-glitzernden Buchstaben quer über den Po ihrer Jeans geschrieben. Auf dem Laufsteg wird ihre Freundin dabei sein, mit einem ähnlichen Design. Wenn sie sich umdrehen, wird die Botschaft „Girl Power“ lauten.
„Wenn man nicht den neuesten Schrei anhat, macht das Druck.“
Lehrerin Julia Köster
„Mich interessiert, wie Klamotten hergestellt werden“, sagt Farida. Auch das ist Thema im Nähkurs von Julia Köster: die Herkunft von Baumwolle, Viskose oder Fleece, die vielen Handgriffe, die nötig sind, um aus Textil Mode zu machen – und die Arbeitsbedingungen in der Fast-Fashion-Industrie. „Ich habe auch schon mal bei Shein bestellt“, gibt Farida zu. „Das bereue ich ein bisschen.“ Denn inzwischen kann sie gut unterscheiden zwischen nachhaltiger Mode und den unzähligen Produkten, die Tag für Tag in den Shops großer Ketten landen – schlimmstenfalls produziert von Kinderhänden. „Es ist schwierig, das zu meiden“, meint Farida. „Weil die Sachen so günstig sind.“ Die meisten würden sich gar nicht fragen, wie diese Billigpreise zustande kommen.
Das Beste am Modemachen sei das Nähen selbst, findet Farida. Die ausgewählten Stoffe an der Nähmaschine zusammenzusetzen ist der letzte Arbeitsschritt von vielen, die ihr weniger Spaß machen – das Zuschneiden etwa. Oder das Abstecken. Gut, dass Farida dabei auf Almut Soetjes Unterstützung zählen kann. Die Oma einer älteren Mitschülerin hilft mit fachkundiger Hand auch in Faridas Kurs aus. „Mit Kindern und Youngstern zu arbeiten ist einfach toll“, schwärmt sie, während sie Faridas Schlaghose für die Nähmaschine vorbereitet. Die Maschine ist ihre, Almut Soetje bringt sie Woche für Woche mit in die Kurse, in denen sie sich ehrenamtlich engagiert – ihrer Enkelin und der Schule zuliebe, aber auch aus persönlicher Näh-Leidenschaft.

Vieles läuft an der Winterhuder Reformschule anders als in anderen Hamburger Stadtteilschulen: Die Schüler:innen wählen ihre Lerninhalte weitgehend selbst und arbeiten jahrgangsübergreifend an ihren Projekten. Das Mode-Upcycling im Atelier „PreLoved“ gibt es zwei Mal, montags für die Klassen Fünf bis Sieben, dienstags für die Acht- bis Zehntklässler:innen. Dass Mädchen in ihren Kursen weit in der Überzahl sind – in beiden ist nur jeweils ein Junge dabei –, habe auch damit zu tun, dass Mode sich noch immer zum Großteil an weibliche Zielgruppen richtet, sagt Julia Köster. „Beim Ausflug zu Hanseatic Help hat sich das klar gezeigt: Frauen misten viel mehr Klamotten aus, die Jungs hatten weniger Auswahl.“
Mode sei aber für fast alle ein Thema – auf dem Schulhof wie in den digitalen Medien. „Wenn man nicht den neuesten Schrei anhat, dann macht das schon Druck“, stellt die Lehrerin fest. „Aber es gibt eben auch viele, die sehr individuell unterwegs sind.“ Diese Kinder und Jugendlichen will Julia Köster bestärken.

Als ausgebildete Friseurin und Sozialpädagogin liegt ihr der Blick hinter die Oberflächen der Fashionwelt am Herzen – deswegen engagiere sie sich auch bei der Gruppe Fashion Revolution, erklärt Köster, die am Handgelenk ein kleines Kleiderbügel-Tattoo trägt. Fashion Revolution gründete sich 2013 in Reaktion auf das Unglück von Rana Plaza: Die Textilfabrik in Bangladesch stürzte ein, mehr als 1000 Arbeiter:innen starben, fast 2500 Menschen wurden verletzt. Der Unfall machte weltweit sichtbar, wie Näher:innen in sogenannten Sweatshops für den westlichen Billigmode-Markt ausgebeutet werden, und er weckte vielerorts Engagement für mehr Fairness und Transparenz in der Branche. Lehrerin Julia Köster und ihre Schüler:innen in Winterhude möchten einen Beitrag dazu leisten.
Dazu nutzt „PreLoved“ auch öffentliche Kanäle: Unter „preloved_wir“ postet Köster auf Instagram und vernetzt sich mit anderen, die sich für Slow Fashion und nachhaltige, inklusive Mode einsetzen. Das Hamburg Journal berichtete bereits aus dem Klassenzimmer, „ZDF logo!“ und das Kindermagazin Geolino waren bei Modenschauen dabei. Auch von Charity-Erfolgen ist zu lesen: Die inzwischen mehrfach zitierte Kreation einer Schülerin aus dem ersten Kurs, ein Flecktarn-Parka mit großem, regenbogenbunten Smiley auf dem Rücken, wurde für 500 Euro ersteigert. „Das Geld haben wir an die Stiftung Kinderjahre gespendet, die sich für Chancengerechtigkeit einsetzt“, erzählt Julia Köster.
Es geht eben um mehr als Glamour, auch beim großen Schaulaufen im April. „Es ist ja gar nicht unser Auftrag, eine perfekte Fashion Show abzuliefern“, erklärt Julia Köster. Das Thema Nachhaltigkeit sei viel wichtiger. Dazu haben die Schüler:innen auch ein Hamburger Slow-Fashion-Label zur Modenschau eingeladen, das über seine Arbeit berichten wird. In einer Gesprächsrunde auf der Bühne soll es um Alternativen zum konventionellen Shopping gehen – Secondhandmode, Upcycling oder auch das Mieten von Kleidung. Außerdem ist eine Kleidertausch-Party in der Schule geplant.
Wenn sie in der bunt beleuchteten Aula zum Rhythmus der Musik in den Lichtkegel treten und professionell gestylt den Catwalk auf- und ablaufen, wollen die Schüler:innen natürlich toll aussehen. Ihre Outfits sollen etwas hermachen, die Strass-Steinchen sollen funkeln und die Spitze blitzen. Das wichtigste Statement aber ist: Mode mit Haltung kleidet am besten.