Kettcar ist eine von Hamburgs erfolgreichsten Indie-Bands. Nun erscheint ein neues Album – es geht um Politik, Rechtsradikalismus und Cancel Culture.
Wenn es cool sein soll, bin ich Musiker“, sagt Reimer Bustorff. „Und wenn es seriös sein muss, sage ich, dass ich Musikverleger bin.“ Er lacht. „Das erzähle ich nur, wenn ich eine Wohnung mieten will.“ Um die nicht ganz ernst gemeinte Anspielung zu verstehen, muss man „München“ kennen, den neuen Song seiner Band Kettcar. Für deren Verhältnisse ist es ein wütendes, ungewöhnlich schroffes Lied, das für Wirbel sorgte, als es im Januar vorab erschien.
Reimer Bustorff hat darin über den fiktiven türkischstämmigen Yachi geschrieben, aus der Perspektive von dessen Kumpel ohne Migrationsgeschichte. „Dann die erste Bewerbung auf deine erste Wohnung/Unter meinem Namen – weil deiner nicht ging/ Und der Vermieter dann in ganz einfacher Sprache mit dir sprach/ Als wärst du ein Kind.“
In „München“ geht es um Rassismus – gegenüber Menschen, die in Deutschland geboren wurden. Um scheinbar harmlose Fragen wie: „Darf ich mal dein schönes schwarzes Haar anfassen?“
„Ich kann mich dem Thema nur nähern, indem ich die Perspektive des Beobachters einnehme“, sagt Bustorff. „Alles andere wäre anmaßend, es würde nicht richtig treffen. Es würde das Gefühl nicht korrekt beschreiben.“
Gefühle beschreiben – das ist seit mehr als zwei Jahrzehnten die große Stärke, ja vermutlich sogar das Erfolgsrezept von Kettcar. Die Band, gegründet in Hamburg, schreibt Songs über Liebe, Freundschaft und Alltag, mit zunehmend gesellschaftskritischer Haltung. Zwei Gitarren, Keyboard, Schlagzeug, Bass, dazu das heisere Pathos in der Stimme von Sänger Marcus Wiebusch – mehr braucht es seitdem nicht für diese Songs, die eigentlich viel zu große Textmengen enthalten, um als dreieinhalbminütige Indie-Rock-Hymnen zu funktionieren. Aber Kettcar berühren, bis heute.
Und was 2002 eher eine Notlösung war, sollte sich später als Glücksfall herausstellen: die Gründung eines eigenen Labels.
Reimer Bustorff, Kettcars Bassist und zweiter Songschreiber, wartet im ersten Stock eines gelblich verkachelten Nachkriegsbaus. Früher stellte man hier, direkt gegenüber vom Bunker Feldstraße, Fleischwaagen für den Schlachthof her. Heute werden in den verwinkelten Fluren die Geschäfte von einer der erfolgreichsten Indie-Bands Hamburgs geführt. Bustorff, groß, ganz in schwarz, Typ freundlicher St.-Pauli-Papi, empfängt vor einem Regal mit Fußballpokalen.
Grand Hotel van Cleef (GHvC) heißt das Label, bei dem seit 2002 alle Kettcar-Alben erschienen sind; Bustorff ist Geschäftsführer, zusammen mit Marcus Wiebusch und Thees Uhlmann.
„Wir sind sehr bodenständig“, sagt Bustorff. „30.000 Euro, um ein Album mit den Berliner Philharmonikern aufzunehmen? Das machen wir nicht. Bei uns läuft es sehr BWL-mäßig ab. Wir gucken auf die Tabellen: Was glauben wir, verkaufen zu können, was können wir ausgeben?“
„Indie“ – das darf man bei GHvC wörtlich verstehen. Kettcar waren nie abhängig von großen Labels. Also macht die Firma mit den fünf Angestellten alles selbst: Aufnahmen organisieren, Verhandlungen mit dem Vertrieb führen, Konzerte buchen. All die mühsame Kleinarbeit, die Bands sonst von Agenturen machen lassen. Es hat sich ausgezahlt: Vier der bisherigen fünf Kettcar-Alben haben es unter die ersten fünf Plätze der Charts geschafft.
„Wir setzen uns schon mit der Erwartungshaltung auseinander“, gibt Bustorff zu. „Wollen die Leute überhaupt noch was von uns hören? Wir diskutieren viel, gerade über Texte. Wir schlagen uns da gegenseitig die Köpfe ein und verwerfen viel, deshalb brauchen wir auch so viel Zeit. Da ist viel Diskurs in der Band, und das ist gut so. Nur weil wir so verschiedene Charaktere sind, haben wir einen Output, der Identifikationspotenzial bietet. Die Leute können sich in den Songs wiederfinden.“
Am 5. April erscheint das neue Kettcar-Album „Gute Laune ungerecht verteilt“. Alles noch da, auch nach sieben Jahren Pause: die hymnischen Melodien, das druckvolle Schlagzeug, die treibenden, auch mal rauen Gitarren. Vier der Songtexte hat Reimer Bustorff geschrieben. Die anderen acht stammen von Marcus Wiebusch. Wer ein gewisses Maß an Lebenserfahrung und Empathie mitbringt, wird sich in allen zwölf wiederfinden können. Da ist „Doug & Florence“, in dem Wiebusch von der Machtübernahme von Krankenpflegerinnen und Paketboten träumt, oder „Wir betraten die Enterprise mit falschen Erwartungen“ –
keine lustige Star-Trek-Hommage, sondern eine in Moll getauchte Powerballade über eine Beziehung in einer tiefen Krise. „Kanye in Bayreuth“: ein dengelnder E-Bass, dräuende Synthesizer, düstere Stimmung. Der Sänger zählt die Titel von Stücken auf. Die Autoren: Wagner, R. Kelly, Morrissey. Das Thema: Cancel Culture. „Es geht darum, ob man Künstler und Werk trennen sollte“, so Bustorff. „Ist es okay, wenn wir noch Michael Jackson hören? Das ist eine Frage, die man nicht pauschal beantworten kann. Wir sind nicht die, die sagen: So ist es richtig, so ist es falsch. Am Ende des Songs steht man da und fragt sich, wo man selbst steht. Das war schon immer Marcus’ Stärke: nicht mit Parolen um die Ecke zu kommen.“
2005 konnte man aus „Deiche“, einem ihrer größten Hits, so etwas wie eine Warnung vor einem Rechtsruck heraushören: „Ein Volk steht wieder auf – na toll – bei Aldi brennt noch Licht/du weißt: Deiche brechen richtig – oder eben nicht.“ An anderer Stelle heißt es: „Nur weil man sich so dran gewöhnt hat, ist es nicht normal.“ Reimer Bustorff macht sich wenig Illusionen, was die Wirkung seiner Songs angeht: „Politisch kann ich mit einem Song nichts bewegen. Aber ich freue mich, wenn wir einen Denkanstoß liefern können. Ich sehe an meiner eigenen Sozialisation, dass Bad Religion und Fugazi mich verändert haben. Ich bin Vegetarier geworden, weil es Bands gab, die das vorgelebt haben!“
„München“ ist nun der Song der Stunde. Keine zehn Tage nach den Correctiv-Recherchen, die die Pläne von Rechten und Neonazis aufgedeckt haben, Millionen von Menschen aus Deutschland zu vertreiben, ging das
beklemmende Video der Band dazu online.
Graue deutsche Städte, die Kamera zoomt langsam auf verlassen wirkende Orte: Läden, Kioske, Spielplätze. Hier hat der NSU bis 2006 neun Menschen mit Migrationsgeschichte ermordet. Der Text zu „München“ geht darauf nicht ein, aber Bustorff wechselt die Perspektive und lässt seine Figur Yachi sprechen: „Sie fragen, wo ich geboren bin/Ich sag, ich bin geboren in/München-Harlaching/München, alte Lady.“
Der gebürtige Hamburger Bustorff weiß: „Dieser Text kann in den Achtzigern spielen, in den Neunzigern, den kannst du durch alle Dekaden ziehen und der trifft trotzdem immer. Weil sich einfach nichts verändert hat! Das ist bitter. Ich wollte den aber nicht in Hamburg haben. Das wäre mir zu autobiografisch geworden. Ich habe überlegt: Was ist am weitesten weg von mir? Und das war halt München.“ Die angezerrt-punkigen E-Gitarren, der atemlose Sprechgesang von Marcus Wiebusch, abwechselnd mit der hellen Stimme von Gastsänger Chris Hell – „München“ ist der kürzeste Kettcar-Song seit 16 Jahren, und mit Sicherheit der dringlichste. Ein
fulminantes, auch musikalisch beeindruckendes Statement.
„Es geht nicht ums Verstehen, sondern vielmehr ums Empfinden“, schrieb ein Journalist über Kettcars 2002er-Debütalbum. Reimer Bustorffs Schreibkunst bestätigt diese These. In „München“ beweist der Songwriter eine feine Antenne, um das Gefühl zu beschreiben, in Deutschland nicht willkommen zu sein.
Bustorff zieht ein versöhnliches Fazit der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklungen: „So erschreckend das alles ist: Es gibt wieder eine Protestkultur. Die Leute regen sich wieder auf! In den Nullerjahren hatte ich das Gefühl, dass sich keiner für Politik interessiert. Ich finde es erfreulich, dass die Leute auf die Straße gehen und Haltung zeigen. Das ist wichtig.“