Als im Januar ein vermutlich Obdachloser auf St. Pauli stirbt, liegen die Temperaturen rund um die Uhr unter dem Gefrierpunkt. Die Notunterkünfte sind überfüllt. Tagsüber müssen die Menschen in die Kälte. Viele sind krank.
(aus Hinz&Kunzt 240/Februar 2013)
Die U3 fährt im Fünf-Minuten-Takt über die Brücke an der Helgoländer Allee, als wäre nichts passiert. Daneben sind die Bäume frisch getrimmt, der Verschnitt liegt auf dem Boden. Am 15. Januar fanden Landschaftsarbeiter hier den leblosen Körper eines Mannes, etwa 55 Jahre alt, eine Flasche Wodka in der Hand. Ein Haufen Zigarettenkippen und eine Plastikdose mit Hundefutter liegen unter der Brücke, daneben eine vergammelte Ma-tratze. „Die Matratze liegt dort immer, das hat nichts mit diesem Fall zu tun“, sagt eine Polizeisprecherin. Erfroren ist der Mann laut Polizei nicht, die genaue Todesursache war bei Redaktionsschluss noch nicht bekannt. Ebenso wenig die Identität des Mannes. Die Polizei hat allerdings Hinweise darauf, dass er obdachlos gewesen sein könnte.
Sozialsenator Detlef Scheele (SPD) vermutet das offenbar auch. „Ich appelliere an alle Obdachlosen, die bei diesen Minusgraden noch Platte machen, nachts in unsere Notunterkünfte zu gehen“, sagte er, kurz nachdem der Tote auf St. Pauli gefunden worden war. Das sagt sich so leicht: Die Notunterkünfte sind heillos überfüllt. Das belegt die Senatsantwort auf eine Kleine Anfrage der Linken-Bürgerschaftsabgeordneten Cansu Özdemir.
In der Spaldingstraße, wo 230 Betten zur Verfügung stehen, schliefen im Dezember und in der ersten Januarwoche durchschnittlich 228 Personen, an manchen Tagen mehr als 240. Wenn dort alle Plätze belegt sind, werden Obdachlose ans Pik As verwiesen. Hier wiederum sind die regulären 210 Schlafplätze in Mehrbettzimmern seit Monaten fest vergeben. Mit Zustellbetten gibt es in der Neustadt maximal 260 Schlafplätze. Die reichten gerade mal an fünf Tagen seit Beginn des Winternotprogramms im November. Belegungszahlen von mehr als 300 Personen sind keine Seltenheit. Dutzenden bleibt nur die Möglichkeit, sich irgendwo hinzulegen, wenn sie die Nacht nicht auf der Straße verbringen wollen: auf Stühle, in Flure oder ins Treppenhaus.
Der obdachlose Jacek erzählt, dass er sich im Pik As aus einem Tisch und einer Decke eine Art Bett gebaut habe. „Auf dem Boden schlafen möchte ich nicht, weil ich Angst vor Läusen habe“, sagt er. Mehrmals pro Woche käme die Polizei ins Pik As, wegen Prügeleien oder sogar Messerattacken. „Es gibt nonstop Probleme, weil so viele unterschiedliche Menschen dort sind und zu viel Alkohol getrunken wird“, sagt Jacek.
„Die Zustände in den Einrichtungen schrecken viele ab“, sagt Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer. „Manche schlafen lieber in der Kälte als im Winternotprogramm.“ Bei Temperaturen von bis zu minus elf Grad im Januar ist das lebensgefährlich.
Menschen verkraften solche Temperaturen, wenn sie in Bewegung sind. Doch wer sich hinlegt und schläft, dessen Körperfunktionen fahren runter. Akut lebensbedrohlich wird das, wenn jemand zudem Alkohol trinkt. Denn dadurch erweitern sich die Blutgefäße, der Körper kühlt schneller aus, erklärt die Ärztin Frauke Ishorst-Witte, die in ihrer Sprechstunde Obdachlose versorgt. Zwar fühlen sich Betrunkene wärmer, aber das sei trügerisch: „Das subjektive Wärmeempfinden des Körpers ist eine Lüge“, sagt Ishorst-Witte.
Im Winter plagen Obdachlose die gleichen Krankheiten wie alle anderen auch: Viele erkälten sich. Dabei sind ihre Körper vom Leben auf der Straße geschwächt. Und in Ruhe ihre Infekte auskurieren können sie auch nicht. „Ich brauche Unterbringungsmöglichkeiten für kranke Obdachlose“, sagt Ishorst-Witte. „Die Anzahl der vorhandenen ist ein Witz.“ So schleppen sich viele krank durch das kalte Hamburg. „Wenn man Fieber hat, dann ist das richtig ätzend“, sagt Ishorst-Witte.
Selbst wenn sie sich nachts in den überfüllten Notunterkünften aufhalten können, müssen Obdachlose frühmorgens wieder auf die Straße. Viele ziehen dann von einer Einrichtung in die nächste, um nicht zu viel Zeit draußen in der Kälte verbringen zu müssen: Frühstück im Cafée mit Herz, einen Kaffee bei Hinz&Kunzt, etwas ausruhen im Herz As, Mittagessen in der Alimaus. Die Aufenthaltsstätte mit Essensausgabe am Nobistor ist so überlaufen wie nie zuvor: Bis zu 500 Menschen kommen jeden Tag. „So habe ich das noch nicht erlebt“, sagt Einrichtungsleiterin Schwester Clemensa Möller.
Die Schlange vor dem Speisesaal der Alimaus geht durch den Vorraum bis weit auf den Bürgersteig. Alle wollen eine warme Mahlzeit. „Die Menschen sind sehr aggressiv, weil jeder als Erster reinkommen will“, sagt Schwester Clemensa. Einmal sei sogar ein Mann mit einem Rollator „unter die Füße gekommen“: Die anderen Wartenden haben ihn einfach überrannt.
Armin weiß, was das Rumziehen von Einrichtung zu Einrichtung bedeutet. „Das belastet mich ziemlich“, sagt er. Lieber würde er auch tagsüber in seiner Unterkunft bleiben, aber aus dem Haus Bethlehem muss er morgens um acht Uhr raus. „Das ist kein Supergefühl – gerade bei der Kälte.“ Im Dezember hat er deswegen seinen Mut zusammengenommen und im Cafée mit Herz gefragt, ob er ehrenamtlich aushelfen kann. Seitdem gibt er dort mit das Essen aus. „So habe ich tagsüber ein warmes Plätzchen“, sagt er. Im November und Dezember hat der 36-Jährige in einem Gartenhäuschen geschlafen. Ausreichend Schutz bot ihm das nicht: Kälte und Feuchtigkeit drangen durch die Holzwand bis in den Schlafsack, er bekam eine Bronchitis. „Ich wünsche keinem, jetzt da draußen schlafen zu müssen“, sagt er.
Frank wartet geduldig vor der Alimaus, bis er an der Reihe ist. „Ich will einfach meine Ruhe haben“, sagt er. In den Notunterkünften ist das offenbar ein unerfüllbarer Wunsch. „Da werden ständig meine Grenzen überschritten“, sagt Frank. So gehe es vielen. Inzwischen hat er eine Möglichkeit gefunden, in Ruhe für sich zu sein: Nachts legt er sich mit seinem Schlafsack in U-Bahn-Stationen.
Text: Benjamin Laufer, Beatrice Blank; Mitarbeit: Jonas Füllner
Foto: Mauricio Bustamante