Die Jugendredakteure Veronika Pohl und Philipp Ratfisch schliefen eine Nacht lang draußen
(aus Hinz&Kunzt 133/März 2004)
Der Abend
Bepackt mit Isomatten und Schlafsack, eingehüllt in dicke Jacken, erreichen wir unsere erste Station, den „Stützpunkt“ am Domplatz. Hier können Obdachlose ihre Sachen verstauen, damit sie sie nicht den ganzen Tag lang herumschleppen müssen. Und hier sollen wir zum ersten Mal Michel und Dieter treffen, die uns heute Nacht unter ihre Fittiche nehmen werden. Es ist sehr eng in der ehemaligen Sanitäranlage, in der jetzt 24 Spinde für persönliche Sachen stehen. Unsere Schlafsäcke müssen deshalb draußen bleiben. An einem kleinen Tisch sitzt Sozialarbeiter Michael, drei Stühle stehen drum herum. Bis auf ein Ölbild sind die Wände karg.
Michel und Dieter kommen kurz rein und empfangen uns sehr freundlich. Wir verabreden uns für später. Die beiden gehen schon mal vor – Bier kaufen. Wir bleiben noch und lernen viele weitere Spindbesitzer kennen. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen auf winzigem Raum. „Ihr wollt also Platte machen? Dann aber schön die Beine zusammenhalten“, kriegen wir von einem kräftigen Mann zu hören. Denn die Stimmung hier im Stützpunkt ist zwar fast familiär, der Umgang untereinander aber auch immer rau. Ein paar deftige Sprüche muss man da verkraften können. Der Gerhart-Hauptmann-Platz ist unser Ziel. Auf dem Weg kommen wir an einer Gruppe Obdachloser aus dem Stützpunkt vorbei. Auf einmal sind uns die Gesichter der Männer bekannt, sie haben jetzt einen Namen für uns.
Auf dem Platz wartet bereits eine kleine Ansammlung von Menschen auf den Wagen des Roten Kreuzes. Es ist windig. Jemand winkt uns schon von weitem zu: „Hier seid ihr richtig!“ Wir treffen wieder auf Michel, der schon alles für uns geregelt hat: Wir werden vor dem Geschäft Brüggemann & Barkmann schlafen, zusammen mit Dirk und Michael, die auf uns aufpassen werden. Was wir davon halten sollen, mit zwei Fremden zusammen die Nacht zu verbringen, wissen wir noch nicht. In unserer Vorstellung liegen wir bereits dicht an dicht gequetscht in einem schmalen Hauseingang. Doch Michel beruhigt uns: „Das ist gut, wenn ihr nicht allein seid. Dann passiert nämlich auch nix.“ Und Michel hat dafür gesorgt, dass wir einen richtig guten Platz bekommen. Die Steinplatten bei Brüggemann & Barkmann sind nämlich etwas „aufgeheizt“, weil tagsüber ein großer Strahler darüber hängt.
Michel und Dieter werden auf der Straßenseite gegenüber und damit in unserer Nähe bleiben. Sie verraten uns das Notsignal: „Wenn jemand Ärger macht: einfach laut schreien, und wir sind sofort da.“ Langsam merken wir: Das hier ist eine richtige kleine Gemeinschaft, in der man sich kennt – und in der es eine Ordnung gibt. Mit einem Leitwolf, Problemkindern und eher ruhigen Typen.
Ein paar deftige Witze heitern unsere Stimmung auf, und auch an gutem Zuspruch, wir sollten uns keine Sorgen machen, mangelt es nicht – ein beruhigendes Gefühl. Als der Rote- Kreuz-Wagen gegen 20.30 Uhr eintrifft, sind unsere knurrenden Mägen heilfroh. Das geht nicht nur uns so: Scheinbar aus dem Nichts kommen Menschen heran, die wir vorher gar nicht bemerkt hatten. Sie bleiben kurz stehen und verschwinden dann wieder. Die meisten Einkäufer und Ladenbesitzer sind inzwischen nach Hause gegangen, und wir können uns auf den Weg zu unserem Schlafplatz machen. Es wird leer in der Stadt.
Die Nacht
Zu unserer Überraschung beginnt die Nacht zuallererst mit Regeln. Wir legen unsere Schlafsäcke aus. Dabei dürfen auf unserer Platte höchstens vier Leute übernachten, obwohl es so geräumig ist, dass zehn Leute Platz gefunden hätten. „Das ist eine Absprache mit dem Ladenbesitzer. Und daran halten wir uns“, erklärt Dirk. „Wir wollen ja nicht, dass diese Platte kaputtgemacht wird und wir hier dann nicht mehr schlafen dürfen.“ Auch an vielen anderen Plätzen gibt es Vereinbarungen mit Wächtern, Putzfrauen oder Inhabern, beispielsweise, wann die Platte wieder geräumt werden muss. Auch auf Zigarettenstummel passen Dirk und Michael genauestens auf: Ihre Kippen stecken sie in eine leere Bierflasche, ihren Müll sammeln sie ein. „Wir halten unsere Platte sauber!“ Da sind sich beide einig. Wer sich nicht an diese Regeln hält, bekommt schnell Ärger mit der ganzen Gemeinschaft.
Schon um zehn Uhr bemerken wir, wie uns die Kälte die Beine hochkriecht. Erst waren es die Fußgelenke, die ganz unbeweglich geworden waren; inzwischen ist das Gefühl bis zu den Knien hochgestiegen. Schnell steigen wir bis zur Hälfte in unsere Schlafsäcke.
Doch allmählich wird uns bewusst, was es heißt, nicht mal eben über den Flur aufs Klo gehen zu können. Dirk und Michael machen es vor: Auf Socken tapern die beiden um die Ecke und nutzen das lokale Baumangebot. Bei uns liegt die Hemmschwelle da deutlich höher. Das zwingt uns, vorauszuplanen. Schließlich hat Burger King nicht die ganze Nacht geöffnet.
Treibende Getränke, so hat man uns [BILD=#platte2][/BILD] schon im Stützpunkt geraten, sind daher beinahe tabu. Als der Mitternachtsbus kommt, haben wir deshalb erst Bedenken, nach einer Brühe zu fragen. Ein Käsebrötchen gibt es auch dazu. Ganz unterschiedliche Typen finden sich vor dem Fahrzeug ein. Während ein Mann in der Schlange erschreckt vor uns zurückweicht, spricht uns ein anderer interessiert an. Die Nachricht über die Gäste hat sich schnell herumgesprochen. Es ist erstaunlich, wie gut das tut. Als wir schon wieder im Schlafsack liegen, kommt der Fahrer des Caritas-Wagens sogar noch zu uns an den Platz. „Alles klar hier? Braucht ihr noch etwas?“ Toll, dass es solche Menschen gibt. Aber es gibt auch andere: Auf einmal steht jemand vor unserer Platte.
Er sieht verwirrt aus, guckt nach unten. Innerhalb einer Sekunde sitzen Dirk und Michael aufrecht, den Schlafsack halb geöffnet. „Hey, was willst du hier?“ Der Mann reagiert nicht, ganz langsam wiegt er sich rhythmisch hin und her. Erst nach einigen Minuten schickt er sich an zu gehen. „Da muss man aufpassen“, schimpft Dirk, „das sind genau die Leute, die dich dann beklauen!“ Wir müssen an Überfälle auf Obdachlose am Gerhart-Hauptmann-Platz denken. Gerade wird uns wieder klar: Beschützt bist du hier draußen nirgendwo. Es ist ein merkwürdiges Gefühl – irgendwie ist jetzt alles anders: Passanten gaffen im Vorbeigehen in den Eingang, in dem wir sitzen, und wir grinsen, als Dirk und Michel sich im Scherz anbrüllen und Fußgänger erschrocken zusammenfahren.
Heute sind wir auf der anderen Seite. Um kurz vor zwölf können wir es kaum erwarten, dass die großen Deckenstrahler über uns endlich ausgeschaltet werden, so hundemüde sind wir. Wir haben schon die Befürchtung, dass wir zu schnell einschlafen und nicht genug von der Nacht mitbekommen könnten. Spätestens nach zwei Stunden müssen wir einsehen, dass es so leicht nicht ist.
Die Nacht besteht aus Geräuschen: Es gibt kurze Töne, mittellange, ununterbrochene, laute, leise, nahe, weit entfernte. Ein unterschwelliges Brummen und ein gleichmäßiges Rauschen, das uns wie ein Rahmen umgibt. Ein Motor läuft die ganze Zeit. Taxis brausen vorbei. Aus der Ferne ist Autohupen zu hören. Die Stadt gibt ein Konzert für uns. Und wie bei jedem Konzert fängt es irgendwann an zu nerven, wenn es zu lange dauert. Dieses hört gar nicht auf.
Selbst spät in der Nacht gehen Gruppen von jungen Menschen vorbei: laut lachend, Frauen mit Stöckelschuhen, deren Klang die ganze Straße hinunter hallt. Da sage mal einer, nachts sei die City tot. Alle halbe Stunde wachen wir auf, drehen uns auf dem harten Boden um und schlagen bei jedem Geräusch die Augen auf. Es könnte ja sein, dass doch jemand neben uns steht. Instinktiv fühlen wir nach unseren Jacken und Schuhen, die hinter uns liegen. Wenigstens geht es den alten Hasen da nicht anders. „Auf der Straße schläfst du nicht! Da ruhst Du nur“, hatte uns Dirk gleich zu Anfang gewarnt. „Deshalb kannst du auch keinen ‚normalen‘ Job haben, wenn du Platte machst. Du bist einfach zu unausgeschlafen.“
Trotzdem stehen er und alle anderen Hinz & Kunzt-Verkäufer viele Stunden am Tag an ihren Plätzen und verkaufen Zeitungen. Egal wie kalt, kurz oder erlebnisreich die Nacht gewesen sein mag, denn einen Tag auszusetzen kann sich keiner leisten.
Immerhin schaffen wir es zwischen drei und fünf Uhr morgens, eine Zeit lang zusammenhängend zu schlafen. Dann wecken uns die Stimmen zweier Männer, die sich längere Zeit in unserer Nähe aufhalten. Am nächsten Morgen werden wir erfahren, dass es zwei Junkies waren. Als sie versuchten, in die Apotheke gegenüber einzubrechen, wurden sie von Michel verjagt.
Der Morgen
Kurz vor sechs ist es aus mit Schlafen. So laut, als würden wir direkt vor den Turbinen eines Jumbo-Jets stehen, reißen uns die Reinigungsfahrzeuge der Stadt brutal aus jeglicher Ruhe. „O Gott, gleich überfahren sie uns!“, schießt es uns durch den Kopf, als wir die Augen vor Schreck tellergroß aufreißen. Während die Bürstenmonster direkt an uns vorbeifahren, scheint der ganze Boden zu beben. Dabei brummen unsere Köpfe ohnehin schon von der Kälte und dem harten Boden. Wir halten uns die Ohren zu und versuchen uns ganz im Schlafsack zu verstecken. Gegen halb sieben ist der Spuk vorbei. Wir sind glücklich, dass die Putzfrauen noch nicht da sind und wir noch ein paar Minuten liegen bleiben können.
Wir müssen daran denken, wie kalt es gleich werden wird, wenn wir aus dem warmen Schlafsack kriechen. Letztendlich können aber auch wir uns nicht länger drücken – Dirk und Michael haben schon längst die Sachen gepackt. Gegen sieben treffen wir trotz aller Strapazen gut gelaunt am Stützpunkt ein. Viele Leute von gestern sind auch heute wieder da, um ihre Sachen abzugeben. Dabei geht es gleich rund: Während wir erleichtert sind, alles heil überstanden zu haben, fängt jemand an, mit uns zu diskutieren. „Ihr müsst mal ’ne Woche Platte machen, ohne Geld. Das ist hart!“ Zudem sei das Wochenende besonders schlimm, wenn betrunkene Partygänger absichtlich stören. „Ihr habt es noch gar nicht richtig kennen gelernt.“ Andere widersprechen ihm und loben unsere Bereitschaft, die Welt mal aus ihren Augen zu sehen – auch wenn es nur für eine Nacht ist.
Nach einer heißen Tasse Tee wird es Zeit, sich zu verabschieden. Während die anderen Zeitungen verkaufen gehen, kehren wir zurück in unsere alte Welt aus beheizten Räumen und Daunendecken. Aber die Erfahrungen dieser Nacht nehmen wir mit. Das nächste Mal, wenn wir an einem Hauseingang mit einer schlafenden Gestalt vorbeigehen, werden wir bestimmt ganz leise sein.