Jüdisches Leben in Hamburg: Wo findet es sich? Wer gehört dazu? Je tiefer man eintaucht, desto mehr Fragen stellen sich. Eine Annäherung.
Wer jüdisches Leben in Hamburg sucht, muss an diesem Abend im Juli in den Musikclub Indra auf St. Pauli gehen. Dort, wo einst die Beatles auftraten, steht heute der israelische Sänger Nachi Weiss auf der Bühne. Oder vielmehr: sitzt, im wohldosierten Scheinwerferlicht vor gut 25 Gästen und singt zur Gitarre Coversongs von Leonard Cohen, Bob Dylan und von Meir Ariel, einem in Israel sehr bekannten Sänger. Das Kulturnetzwerk „Mit2wo“, das jüdische und nicht-jüdische Menschen zusammenbringen will, hat kurzfristig eingeladen. Manche Männer tragen heute Abend Kippa, andere nicht. Viele trinken Cola. Klar – Cola ist koscher.
Bis heute Vormittag kannte ich das Netzwerk gar nicht. Aber es entdeckte offenbar mich und schickte mir eine Einladung. Denn ich bin auf der Suche nach heutigem Judentum, durchaus angespornt von einem jüdischen Journalistenkollegen, der mein großes Interesse für die Aufarbeitung des Holocaust mal so kommentierte: „Übrigens, Herr Keil, es gibt nicht nur tote Juden.“
Der Abend sei sehr typisch gewesen, erzählt Giorgio Paolo Mastropaolo D. I. von Mit2wo ein paar Tage später am Telefon. Bei den regelmäßigen Veranstaltungen gehe es vor allem um Austausch. Ein wenig wie bei einer After-Work-Party: Sich treffen, um sich wieder zu treffen. Und das zweimal im Monat, an immer wechselnden Orten mit einem jüdischen Bezug, auch um die Stadt besser kennenzulernen, und jede:r bringt jedes Mal jemanden mit. Neulich etwa ging es in den Art Store „Wohl oder Übel“ in der Wohlwillstraße – die nach der jüdischen Malerin Gretchen Wohlwill (1878–1962) benannt ist und die nach dem Krieg aus dem Exil nach Hamburg zurückkehrte.
Mit2wo ist abgeleitet von „Mitzwot“, den 613 Geboten in der Thora, die das Leben von jüdischen und auch
von nichtjüdischen Menschen regeln: „Es geht um die Mitmenschlichkeit, um die Begegnung“, erklärt er. „Als Jude habe ich mit der Muttermilch eingesogen: ‚So etwas wie der Holocaust darf nie wieder passieren.‘ Der Deutsche wächst damit auf: ‚Oh, ich will das lieber wegblenden!‘“ Und das erzeuge ein Taubheitsgefühl: „Wir müssen beide darüber trauern, dass der Mensch in der Mitmenschlichkeit gescheitert ist, dann können wir gemeinsam einen Weg gehen.“ Von daher: „Was möchtest du über uns wissen, was möchtest du fragen? Dann frage. Wir sind da!“ Giorgio Paolo Mastropaolo D. I. hatte die Idee, suchte sich sechs Mitstreiter:innen, um im Mai diesen Jahres einen Verein zu gründen. Peggy Parnass ist Ehrenvorsitzende. Jetzt sei erst mal Sommerpause, im September gehe es weiter. „Man sieht sich“, sagt er zum Schluss.
„Ich glaube, dass es beim Judentum besonders gut geht, dass man sich für dessen Kultur und Geschichte interessiert, aber nicht für dessen religiöse Belange“, sagt Barbara Guggenheim auf die Frage, warum jüdische Musik oder Literatur schnell auf Interesse stößt, viele bei der jüdischen Religion aber ein bisschen fremdeln. Sie hat vor 15 Jahren mit Mitstreiter:innen den Jüdischen Salon gegründet, der bisher meist im hinteren Raum des Café Leonard im Grindelhof 59 zu Gast war, nach dessen Ausbau zu einem Restaurant nun aber seine Veranstaltungen an wechselnden Orten im Grindelviertel durchführen wird. Sie ist Jüdin, und sie ist nicht religiös.
Da sind wir schon mitten im Gespräch, Barbara Guggenheim als Schweizerin, Maria Peker als Russin und ich als Deutscher. Wir lachen viel an diesem Nachmittag, denn das Judentum ist eine immer wieder verworrene Sache. Nicht nur, was Jüdischsein als Religion, als Nationalität oder auch als Bekenntnis angeht. Auch, ob ein jüdischer Vater zum Jüdischsein ausreicht oder ob es eine jüdische Mutter braucht, ist nicht einfach zu verstehen. Es ist zuweilen auch eine verdammt ernste Sache. Gibt man zum Beispiel in die Internet-Suchmaschine „Hamburg+jüdisches+Leben“ ein, tauchen sofort die Hamburger Gedenkstätten auf.
Mit am Tisch eben auch Maria Peker, die mittlerweile zum Team des Jüdischen Salons gehört. Sie war mir an einem Salon-Abend aufgefallen, wie sie in einem leuchtend blauen Kleid zu strahlend gelben Stiefeln als Moderatorin auf der Bühne saß: Der russische Überfall auf die Ukraine war noch frisch, und sie führte souverän durch den Abend, an dem ein Autor und sein Buch vorgestellt wurden. Es ging dann schnell um den Krieg – und die Folgen. Denn viele der Hamburger Juden und Jüdinnen kommen ursprünglich aus den ehemaligen Staaten der GUS, aus Russland oder aus der Ukraine und haben weiterhin familiäre Verbindungen dorthin. Kein konfliktarmes Feld also, Ende offen.
„Obwohl die jüdische Gemeinschaft sehr klein ist, ist sie in sehr viele Gruppen unterteilt“, sagt Peker. Sie selbst stammt aus Moskau und ist erst in Deutschland mit dem Judentum in engeren Kontakt gekommen: „Wir Kinder wurden säkular erzogen, ich kannte die Sitten und Gebräuche nicht.“ Sie brauchte ihre Zeit, war Ende 20 und musste sich erst zurechtfinden: „Die Jüdische Gemeinde war die erste Station, das war auch ein wenig schwierig: Es war eher die ältere Generation, die das Gemeindeleben prägte. Heute ist das anders geworden.“
Barbara Guggenheims Werdegang ist wieder ein anderer: Sie wächst in der Schweiz in einer Einheitsgemeinde auf, ist auch im jüdischen Jugendbund aktiv. Ihre Familie ist traditionell, aber nicht religiös. „Als ich als Erwachsene nach Hamburg kam, hatte ich gar nicht das Bedürfnis, mich wieder einer Gemeinde anzuschließen“, sagt sie.
Dann werden ihre Kinder, zwei Jungen, allmählich groß: „Ich wollte dann doch, dass sie wissen, dass sie eine jüdische Mutter haben und sie daher Juden sind.“ Als die Bar-Mizwa naht, nimmt sie Kontakt zum Rabbiner Bistrizky auf, der damals noch nicht Gemeinderabbiner ist: „Ich wollte, dass sie ein Jahr lang einmal in der Woche unterrichtet werden, aber ich wollte nicht, dass man versucht, sie religiöser zu machen, als wir es als Familie sind“, sagt sie. Sie spricht ihren Zwiespalt offen an, es klappt sehr gut. In dieser Zeit merkt sie, dass ihr in Hamburg die jüdische Kultur fehlt: „Das war für mich der Grund, den Jüdischen Salon mitzugründen.“ Sie sagt: „Für mich reicht das, ich habe in Hamburg meinen jüdischen Ort gefunden.“
Und wie sehen die beiden die Zukunft jüdischen Lebens in Hamburg? „Ich wünsche mir, dass jüdisches Leben, so wie es das mittlerweile so selbstverständlich in Berlin gibt, endlich nach Hamburg überschwappt“, sagt Barbara Guggenheim: Juden aus Osteuropa, Israelis, amerikanische Juden und dann die Nachkommen der Überlebenden – nicht, dass es sie in Hamburg nicht gäbe, aber irgendwie hielten sie sich voneinander fern, seien nicht erkennbar.
Maria Peker beschäftigen auch die Differenzen innerhalb der jüdischen Community: „Seine Identität über so viele Jahrhunderte zu bewahren, das ist eine kulturelle Leistung, dafür kann man den Orthodoxen nur danken.“ Sie verstehe aber auch die Gegenbewegung des Reformjudentums: „Man muss die Regeln an die heutige Zeit anpassen, wir müssen das Judentum auch für junge Menschen attraktiv machen.“
Sie sagt nachdenklich: „Wir tragen eine gewisse Mitverantwortung, dass jüdisches Leben nicht so sichtbar ist, wie es sein könnte, weil wir doch eine eher abgesonderte Gemeinschaft sind und weil wir sehr vorsichtig sind, nach außen zu gehen.“ Was – na klar – historische Gründe habe. Wäre es nicht an der Zeit, neue Wege zu gehen? „Ich glaube, dass es für Nichtjuden schwierig ist, Juden zu treffen, denn die kommen im Hamburger Straßenbild nicht vor oder sind nicht als solche zu erkennen, besonders wenn sie religiös sind.“
Dabei wäre es wichtig zu sehen, dass Juden nicht irgendwelche Exoten seien – sondern ganz normale Menschen.
Zum Schluss wechsele ich auf die andere Elbseite, steige auf der Veddel aus, gehe ein paar Schritte: In Georgswerder hat der Maler Leonid Kharlamov sein Atelier. Gerne möchte auch er über jüdisches Leben in Hamburg sprechen, das fände er spannend. „Ich bin ja ein nichtjüdischer Jude“, sagt er, als er die Tür öffnet, und lacht laut. Das muss erklärt werden. Aber erst mal macht er Tee, schaltet den Wasserkocher ein.
Er war 14 Jahre alt, als seine Familie in St. Petersburg die Koffer packte. Das Leben war wirtschaftlich mehr als schwierig – zugleich tobte der erste Tschetschenienkrieg. Die Eltern hatten Angst, er könne als Wehrpflichtiger an die Front geschickt werden.
Es gab einen jüdischen Großvater, so konnten sie als jüdische Kontingentflüchtlinge 1995 ausreisen: „Wir haben damals zwei Zettel ausgefüllt, einen für Israel, einen für Deutschland – Deutschland war schneller.“ So kann das Leben auch entscheiden.
„Ehrlich gesagt wusste ich kaum etwas über jüdisches Leben, als wir in Deutschland ankamen“, sagt er. In der Sowjetunion und im nachfolgenden Russland sei „jüdisch“ anders als bei uns keine Religion, sondern eine Nationalität, ist mit „Jewrej“ im Pass vermerkt. Und man spricht lieber nicht darüber: „Als ich mit sieben Jahren erfuhr, dass wir jüdisch sind, bin ich in die Schule gerannt und habe es allen erzählt – und am nächsten Tag wurde ich gedisst, denn meine Mitschüler hatten zu Hause ihre Eltern gefragt, was das denn ist: jüdisch“, erzählt er.
Gläubig ist er nicht. Was hierzulande zu noch mal ganz anderen Erlebnissen führt, so, als er sich einmal für ein Stipendium für explizit jüdische Künstler:innen bewirbt. Denn in der Jury sitzt auch ein Rabbiner. Ob er da Chancen hat? Aber er will nicht lügen, also sagt er ihm, dass er nicht an Gott glaubt – der Rabbiner befürwortet dennoch, dass er das Stipendium erhält: „Als ich ihn gefragt habe, warum, ich sei doch für ihn kein Jude, meinte er: ‚Für mich bist du keiner, aber für die Nazis schon.‘“
Und – hat seine Kunst etwas mit dem Judentum zu tun? Eigentlich nicht. Obwohl, er denkt kurz nach: Mit Aby Warburg beschäftigt er sich immer wieder, dem jüdischen Kulturwissenschaftler aus Hamburg, der zuletzt Katholik wurde. Mit der Bielski-Brigade setzt er sich gerade malerisch auseinander, einer jüdischen Untergrundarmee während des Zweiten Weltkrieges, die vielen Juden das Leben rettete. Und dann ist da noch sein Engagement für die Umbenennung der Straße „Hamburger Berg“ auf St. Pauli. Die hieß bis 1938 „Heinestraße“, nach dem jüdischen Mäzen Salomon Heine. „Ich fühle mich mit der jüdischen Kultur verbunden, so wie ich mich mit russischer Kultur verbunden fühle und mittlerweile auch mit der deutschen“, sagt er abschließend. Und lacht: „Ich bin so Mischmasch.“