Für Kinder ist es schwer zu verstehen, dass Menschen auf der Straße schlafen müssen. In Hamburger Grundschulen erzählt ihnen Hinz&Künztler Jan vom Leben ohne Zuhause.
Für die Kinder der Klasse 4c ist das Thema Obdachlosigkeit eigentlich ganz schön weit weg. Klar haben sie als echte Großstadtkinder schon Menschen gesehen, die betteln und in Hauseingängen schlafen. Nun sitzt einer von ihnen mittendrin in ihrer Klasse in der Grundschule Wrangelstraße in Hoheluft und erzählt von seinem Leben. Hinz&Künztler Jan hat Kirsten Boies Buch „Ein mittelschönes Leben“ im Gepäck – die Geschichte eines Vaters, der nach Scheidung und Jobverlust auf der Straße landet und der sich vor seinen Kindern für seine Obdachlosigkeit schämt.
Wie ein verschmitzter Opa, der seinen Enkeln eine Geschichte erzählt, sitzt Jan nun im Stuhlkreis zwischen den Kindern. Die Scheu vor dem fremden Mann mit dem Zöpfchenbart weicht schnell. Kein Wunder: Jan ist ein alter Theaterhase, er hat als Schauspieler viele Jahre lang Kindertheater gemacht.
„Zehn Jahre war ich obdachlos und bin froh, dass ich heute hier bin.“
Gebannt hören die 23 Mädchen und Jungen zu; immer wieder unterbricht Jan seine Lektüre und berichtet von seinem eigenen Leben. „Zehn Jahre war ich obdachlos und bin froh, dass ich heute hier bin“, sagt der 72-Jährige. Und schon schießen viele Arme in die Höhe – die Kinder haben jede Menge Fragen. „Wie bist du obdachlos geworden?“, fragt einer der Jungs aus der Runde. Jan nickt freundlich, auf die Frage hat er gewartet.
Ruhig und kindgerecht erzählt er davon, dass er als Schauspieler eine gute Arbeit hatte. Als er das Angebot für ein Engagement in Münster bekam, nahm er sich einen Untermieter. „Ich habe damals Kindertheater gemacht, war mal König, mal Clown“, sagt er und die Kinder lachen. Der Vertrag wurde verlängert, Jan verliebte sich, alles lief gut. Mit seiner neuen Liebe zog er nach München. „Wir wollten heiraten, doch nach drei Monaten war alles vorbei“, erzählt er. Warum? „Ich war schon 54, Roswitha war 27“, erklärt er in die Runde. „Oh“, sagt eines der Mädchen trocken.
Mittlerweile hatte sein Untermieter mit seinem Vermieter einen Vertrag gemacht, Jan war seine Hamburger Wohnung los. In München habe er keine Arbeit als Schauspieler gefunden, sagt er, auch mit einem Taxischein klappte es nicht. Er wohnte mal hier, mal dort, dabei ging irgendwie ein großer Teil seiner Habseligkeiten verloren. „Da war so eine schöne warme Kaschmirjacke …“, kommt er ins Träumen – auch die ist weg.
Schließlich ging er zurück nach Hamburg und landete auf der Straße. Wie das ist? „Du musst kämpfen, hast keinen eigenen Raum. Es ist wie im Dschungel. Die Menschen haben eine rohe Sprache, das war schwer für mich.“ Aber es mache auch stark: „Du lernst, was du im Leben wirklich brauchst.“ Einen Schlafsack, ein paar Klamotten, deinen Reisepass. „Bloß nicht auf einer Kunststoffmatte schlafen“, doziert er. Pappe und Zeitung seien für ihn immer die beste Platte gewesen, „das nimmt den Schweiß auf und man bleibt warm.“ Die Kinder staunen.
„Jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich. Man darf sich nicht selbst belügen.“
Ein Junge berichtet, er sehe manchmal Leute, die auf der Straße Alkohol trinken, „machen das alle Obdachlosen?“ Jeder habe eine andere Persönlichkeit, erklärt Jan. Viele, die auf der Straße leben, seien unglücklich. Das Trinken sei eine Krankheit wie Drogen- oder Spielsucht, wirbt er um Verständnis. Der Junge scheint mit der Antwort zufrieden. „Jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich“, schiebt Jan nach. „Man darf sich nicht selbst belügen.“
Es ist warm im Klassenraum, manche der Schüler werden unruhig. Doch die Faszination überwiegt, geduldig melden sich manche minutenlang, um schließlich mit ihrer Frage dranzukommen. Auch Jan wird langsam müde. Die Geschichte, wie er mithilfe von Sozialarbeitern von Hinz&Kunzt und der Lawaetz-Stiftung endlich zu einer eigenen Wohnung kam, nimmt ein paar Umwege. Doch die Kinder bringen ihn immer wieder zurück in die Spur. „Hast du jetzt wieder Arbeit?“, fragt ein Mädchen. „Hinz&Kunzt zu verkaufen ist Arbeit, keine Bettelei“, sagt Jan mit Würde.
Seine Wohnung, die er von der SAGA bekommen hat, sei sein Sechser im Lotto, findet er. Mit seiner Rente und seinem Verdienst als Verkäufer kann er die Wohnung selbst bezahlen, darauf ist er stolz. „Obdachlosigkeit sorgt dafür, dass ich mit wenig auskommen kann.“ Schämen tut er sich für seine schlechten Zähne, „auf der Straße konnte ich nicht gut Zähne putzen.“ Seinen Bartzopf trage er, um von seinen Zähnen abzulenken, „und wenn ich mal mit einem Segelboot untergehe, dann binde ich meinen Bart einfach an einem Brett fest, bis ich gerettet werde!“
„Hast du ein mittelschönes oder ein schönes Leben?“, will eines der Kinder zum Abschluss wissen. „Ein schönes!“, ruft Jan fröhlich. „Ich freue mich über das Leben, und ich darf hier mit euch Kindern in der Schule sein. Bei euch fühle ich mich wohl, hier bin ich kein Penner.“