Verhaltensauffällige Kinder und unvermittelte Umarmungen vermögen unseren Autor Frank Keil beim interaktiven Theaterstück „Schwarze Augen, Maria” nicht so recht zu berühren. Trotz guter Absichten: Für ihn ist vor allem eins inszeniert – die Nähe zum Publikum.
(aus Hinz&Kunzt 251/Januar 2014)
Deborah ist in der Psychiatrie. Sie wird gerade ruhiggestellt mit Tavor. Hilflos sitzen ihre Eltern in der Wohnung, müde und erschöpft. Sie wissen nicht, wie es weitergehen soll, haben sie doch noch ihren Sohn, einen obsessiven Michael-Jackson-Fan, der rund um die Uhr beaufsichtigt werden muss. Seit zehn Jahren leben sie im „Haus Lebensbaum“. Kontakt nach draußen haben sie so gut wie keinen. „Wenn euch das jetzt zu viel wird, dann sagt ruhig Bescheid“, sagt die Mutter zu uns.
Denn das alles ist ein Spiel, ein Theaterstück: „Schwarze Augen, Maria“ heißt es, aufgeführt von der Theatergruppe Signa in einer ehemaligen Schule an der Wartenau im Auftrag des Schauspielhauses. Wir Zuschauer sitzen nicht auf Stühlen, wir gehen in Gruppen durch das Haus. Sechs Familien sind zu besuchen, eine sonderbarer als die andere. Alle Kinder leiden an einer seltsamen Krankheit, nach einem ominösen Unfall draußen in Altenwerder. Manche bekommen epileptische Anfälle, sie singen und kreischen; andere nehmen einen in den Arm, weil Gott Liebe ist. Ein Arzt rennt herum, der der Irrste von allen zu sein scheint.
Die Zimmereinrichtung ist sorgsam drapiert, mit Hunde- und Katzenpostern; mit Betten und Matratzen und Unmengen von Stofftieren und dreckigem Geschirr. Alles ist leicht schmuddelig; Verlassenheit, Hoffnungslosigkeit und mühsam verdeckte Armut in Reinkultur. Ich gehe eine Zeit lang mit, setze mich dann in die Raucherecke, obwohl ich nicht rauche, und denke nach: Warum berührt mich das hier alles kaum? Warum werde ich nicht wie beabsichtigt Teil der Inszenierung?
Ich kenne ungelüftete Wohnzimmer, kenne Väter, die zum Frühstück Bier trinken, kenne Kinder, die einen „Dachschaden“ haben, wie man damals sagte.
Es dürfte an mir liegen. Ich kenne diese Szenerie, die sich hier so wohldosiert vor mir entblättert, aus vergleichbarem eigenen Erleben. Ich bin in einem Viertel aufgewachsen, das man heute einen „sozialen Brennpunkt“ nennen dürfte. Damals sagte man nur: „schlimme Gegend“. Ich kenne ungelüftete Wohnzimmer, kenne Väter, die zum Frühstück Bier trinken, kenne Kinder, die einen „Dachschaden“ haben, wie man damals sagte. Ich kenne das auch aus meiner Arbeit, wenn ich unterwegs bin als Reporter; wenn ich Messies besuche, die ihre Wohnung mit Leidenschaft vollkrempeln; wenn ich bei Familien sitze, denen das Jugendamt im Nacken sitzt und die die Kekse, die sie anbieten, nicht vorher aus der Packung nehmen, um sie sorgsam auf einem Teller zurechtzulegen – und wenn mir diese Menschen danach tagelang nicht aus dem Kopf gehen wollen.
Ich kenne diese Leute, die nach bürgerlichen Maßstäben schlecht und unvorteilhaft angezogen sind, die sich falsch ernähren, die niemanden kennen,der zu Hause ein Arbeitszimmer hat, die nicht zur Psychologin gehen, obwohl das durchaus helfen könnte. Und also bin ich weder überrascht noch schockiert, noch erfasst mich der bildungsbürgerliche Grusel beim Gang durch dieses Haus Lebensbaum.
Den anderen Zuschauern scheint das nicht so zu gehen: Sie hören interessiert zu, wenn ihnen die abstrusesten Geschichten vom kommenden Weltende erzählt werden, sie trinken brav scharfen Filterkaffee von der Kaffeemaschine und machen alles mit. Markus zum Beispiel (wir tragen alle Namensschilder), ein älterer Mann, flott angezogen und mit hübsch-grauen Haaren, scheint sich sehr wohlzufühlen. Er hat sich zu zweien der fiktiv behinderten Kindern auf den Spieleteppich gesetzt, lobt ihre krakeligen Zeichnungen, die sie ihm hinhalten und spricht mit ihnen in dieser überbetonten Babysprache, die sich viele Erwachsene zulegen, wenn sie mit Behinderten reden. Markus geht mir ziemlich auf die Nerven.
Ich will vom Theater gefordert werden, nicht unterhalten.
Ich weiß schon, was das soll: Wir sollen hier Fremdheit erfahren, wir sollen mit unseren Vorurteilen konfrontiert werden. Und wir sollen Teil des Geschehens werden. Aber nach zweieinhalb Stunden habe ich genug. Ich nehme meinen Rucksack und atme draußen erleichtert die kalte, frische Luft ein. Zu Hause klappe ich meinen Laptop auf, schaue nach, warum die Kollegen alle so begeistert von diesem Stück sind. Und das sind sie durch die Bank, alle finden das Stück megatoll und außerordentlich gelungen. Der Kollege vom Spiegel schreibt was von „begehbarem Unterschichtenfernsehen“, nur die Kollegin vom Abendblatt scheint etwas enttäuscht zu sein, dass es während der Vorführung nicht zu körperlichen Attacken auf das Publikum gekommen ist, für die die Theatertruppe sonst so bekannt ist.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich mag Theater, das einen durchrüttelt. Ich will vom Theater gefordert werden, nicht unterhalten. Lieber vier Stunden „Faust“ in Zeitlupe gespielt als eine hemdsärmelige Komödie, in der sich die Helden am Ende in die Arme fallen. Will ich mich berieseln lassen, schalte ich den Fernseher ein. Es ist auch völlig in Ordnung, wenn man mir mit dem Thema „Behinderung“ zu Leibe rückt. Ich mochte den halbdokumentarischen Spielfilm „Idioten“ von Lars von Trier, in dem eine Schar junger Leute einen auf geistig behindert macht. Sie ziehen lärmend durch Kopenhagen, benehmen sich komplett daneben – und niemand schreitet ein, weil niemand weiß: wie umgehen mit diesen irren Behinderten? Und bevor man etwas falsch macht, macht man lieber gar nichts.
Der Film nimmt uns als Zuschauer ernst; er tut nicht so, als gäbe es da keine Grenze. Das fehlt mir bei dem Stück hier, und es fehlt mir entschieden. Was soll ich empfehlen? Hingehen und das Stück selbst schauen? Vielleicht. In jedem Fall hat es mich dazu gebracht, über mich und das Theater und was wir voneinander wollen, nachzudenken. Und dafür kann man ruhig mal einen Abend hergeben.
Text: Frank Keil
Foto: Erich Goldmann