Psychiater über traumatisierte Geflüchtete

„Massenunterkünfte verschärfen die Problematik“

Kaum Privatsphäre: In den Hamburger Messehallen waren im Dezember 2024 und Januar 2025 bis zu 476 Geflüchtete untergebracht. Foto: picture alliance/dpa/Marcus Brandt
Kaum Privatsphäre: In den Hamburger Messehallen waren im Dezember 2024 und Januar 2025 bis zu 476 Geflüchtete untergebracht. Foto: picture alliance/dpa/Marcus Brandt
Kaum Privatsphäre: In den Hamburger Messehallen waren im Dezember 2024 und Januar 2025 bis zu 476 Geflüchtete untergebracht. Foto: picture alliance/dpa/Marcus Brandt

Der Psychiater Ingo Schäfer leitet das Zentrum für traumatisierte Geflüchtete am UKE – und kritisiert, dass die Debatte über Migration die seelische Gesundheit vieler Menschen weiter verschlechtert. Auch Perspektivlosigkeit und mangelnde Privatsphäre seien belastend.

Hinz&Kunzt Randnotizen

Freitags informieren wir per Mail über die Nachrichten der Woche:

Hinz&Kunzt: Vor zehn Jahren wurde noch ganz anders als heute über Geflüchtete geredet: Menschen auf der Flucht „müssen oft Situationen überwinden oder Ängste aushalten, die uns wahrscheinlich schlichtweg zusammenbrechen ließen“, hat Angela Merkel 2015 ihre Politik begründet. Was macht Flucht mit der Psyche?

Ingo Schäfer: Geflüchtete Menschen bringen oft belastende Erlebnisse wie Kriegserfahrungen oder Verfolgung mit. Auf der Flucht erleben sie häufig Gewalt oder geraten anderweitig in Lebensgefahr. Daraus können sich psychische Erkrankungen wie zum Beispiel die posttraumatische Belastungsstörung entwickeln.

Welche Symptome löst diese Erkrankung bei Betroffenen aus?

Sie ist geprägt vom Wiedererleben traumatischer Ereignisse in Form von Bildern, die vor die Augen kommen, Gedanken daran oder Albträumen.

Etwa jede:r dritte Geflüchtete zeigt Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Depression. Psychosoziale Versorgungszentren wie Ihres decken nach eigenen Angaben bundesweit gerade einmal 3 Prozent der nötigen Versorgung ab.

Es gibt viel zu wenige Beratungsangebote, die dabei helfen, die Belastungen der Menschen zu erkennen, und erste Unterstützungsangebote machen. Noch mehr spitzt sich das bei Psychotherapien zu, zu denen nur ein sehr geringer Teil geflüchteter Menschen Zugang hat. Große Hürden gibt es auch, was die psychiatrische Versorgung angeht, etwa durch Sprachbarrieren. In anderen Bundesländern ist auch das Asylbewerberleistungsgesetz eine Hürde.

„Es gibt viel zu wenige Beratungsangebote.“

Darin ist geregelt, dass Geflüchtete in den ersten drei Jahren nur eine Akutversorgung erhalten. Die Ampel-Regierung hat diese Regel zuletzt noch mal verschärft, vorher konnten Geflüchtete schon nach 18 Monaten etwa eine Psychotherapie bewilligt bekommen.

Allerdings gibt es in Hamburg den politischen Willen, in die psychosoziale Versorgung Geflüchteter zu investieren, das ist in diesem Maße nicht in allen Bundesländern der Fall.

Folgt daraus, dass in Hamburg mehr als drei Prozent der psychisch erkrankten Geflüchteten angemessen behandelt werden?

Wenn man von 40.000 geflüchteten Menschen in öffentlicher Unterbringung in Hamburg und 30 Prozent mit psychischen Erkrankungen ausgeht, kommt man auf rund 12.000 behandlungsbedürftige Personen. Bei Centra können wir pro Jahr etwa 300 Menschen Beratungen und bis zu 100 Menschen Psychotherapien anbieten. Das entspricht also auch bei uns in etwa 3 Prozent.

Trotz politischem Willen ist das Ergebnis also das gleiche.

Mit dem Unterschied, dass es anderswo jetzt schlechter wird. Die Bundesförderung für psychosoziale Zentren wurde zurückgefahren. In Hamburg bleiben wir durch die Förderung der Sozialbehörde stabil auf diesem Niveau.

Der Senat hat im Januar seinen neuen Psychiatrieplan vorgestellt und zahlreiche Verbesserungen angekündigt. Geflüchtete kommen darin allerdings nicht vor.

Nicht explizit, das ist richtig. Ich gehe aber davon aus, dass diese Perspektive in den geplanten Projekten gesehen wird. Es ist inzwischen allen bewusst, dass die Versorgung von Menschen mit Flucht- oder Migrationshintergrund wichtig ist. Im Fokus ist das Thema beim Landespsychiatrieplan allerdings nicht, das finde ich schade.

Laut Studien macht vielen Geflüchteten auch die Unterbringung in Zentralen Erstaufnahmen mit wenig Privatsphäre zu schaffen. Was bedeutet es für die Psyche, wenn Hamburg notgedrungen Menschen in Zelten oder Messehallen einquartiert oder viel länger als gedacht in Erstaufnahmen unterbringt?

Wenn man belastet ist, verschärfen Massenunterkünfte mit wenig Privatsphäre die Problematik. Aber auch die sich zum Teil hinziehenden Asylverfahren mit den lange anhaltenden Unsicherheiten bezüglich des eigenen Aufenthaltsstatus, Diskriminierungserfahrungen und mangelnde Teilhabe sind ganz massive zusätzliche Belastungsfaktoren. Gerade wenn es um Trauma geht, ist ein Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit elementar für eine Besserung. Für viele gibt es keine größere Unsicherheit, als lange nicht zu wissen, ob sie überhaupt bleiben dürfen.

Ingo Schäfer ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitet das Beratungszentrum „Centra“ am Hamburger Universitätsklinikum UKE. Foto: Dmitrij Leltschuk
Ingo Schäfer ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitet das Beratungszentrum „Centra“ am Hamburger Universitätsklinikum UKE. Foto: Dmitrij Leltschuk

Wenn Geflüchtete in Deutschland ankommen, dürfen sie anfangs nicht arbeiten. Was würde sich für sie verbessern, wenn man das ändern würde?

Es geht dabei um Tagesstruktur und Selbstwirksamkeit – also das Gefühl, dass das eigene Handeln Auswirkungen hat und man zum eigenen Wohlergehen beitragen kann. Das sind Aspekte, die bei einer psychischen Belastung zu einer Stabilisierung beitragen. Wenn sie fehlen, führt das dazu, dass sich die Symptome verstärken.

Welche Möglichkeiten hat man da als Therapeut:in? Sie können diese belastenden Faktoren ja nicht abstellen, weil sie staatlich vorgegeben sind.

Das ist einer der Gründe, wieso psychische Belastungen bei Geflüchteten länger anhalten und Therapien schlechter wirken können. Bei Menschen mit gesichertem Aufenthalt sind Therapien besser wirksam. Das Ziel in der Therapie muss dann oft sein, zunächst Bewältigungsstrategien im Alltag zu fördern.

Das stelle ich mir besonders schwierig vor, wenn eine Abschiebung droht …

Ja, da muss die Therapie sich oft darauf beschränken, mit den Ängsten der Klient:innen umzugehen. Bei einer posttraumatischen Belastungsstörung würde ich normalerweise daran arbeiten, dass die Person im Alltag stabiler wird und sich Ressourcen aufbaut. Stattdessen steht die ganze Zeit das Thema Abschiebung im Raum und bindet so viel von den Kapazitäten, die die Menschen haben.

Als weiteren belastenden Faktor beschreiben Sie zusammen mit Kolleg:innen in einem offenen Brief die Pauschalisierungen in der Debatte über Migration. Tatsächlich kann man beim Nachrichtenlesen mitunter den Eindruck bekommen, dass ein erheblicher Anteil der Geflüchteten gewalttätig ist.

Das betrifft nur einen verschwindend kleinen Teil der Menschen. Nach Recherchen der Bundesarbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge ist weniger als ein Prozent der Ausländer:innen in Deutschland wegen Gewalttaten aktenkundig. Es gibt aber eine Tendenz, bei Menschen mit psychischen Problemen mehr Gewalt zu vermuten. Doch das Gegenteil ist richtig: Es gibt im Schnitt weniger Straftaten von psychisch kranken als von gesunden Menschen, sie werden sogar häufiger Opfer von Gewalt. Aber solche stigmatisierenden Bilder sind nach wie vor in den Köpfen und können leicht in einer politischen Debatte instrumentalisiert werden.

Dennoch gab es die schrecklichen Taten von Aschaffenburg und Magdeburg. Die Menschen fragen sich, wie es dazu kommen konnte.

Es kommen immer zusätzliche Faktoren hinzu. Etwa ein Versagen des Versorgungssystems, wie beim Täter von Aschaffenburg: Bei ihm gab es laut Medienberichten mehrere Psychiatrieaufenthalte, offensichtlich mit raschen Entlassungen ohne weitere psychosoziale Betreuung. Das alles kann zusammen mit den zusätzlichen Belastungen der Geflüchteten in Summe offensichtlich dazu führen, dass einzelne Menschen verzweifelt sind und es zu solchen Taten kommt.

Der Grüne Robert Habeck hat sich für die Erstellung von „psychischen Profilen“ von ankommenden Geflüchteten ausgesprochen, CDU-Politiker Carsten Linnemann regte ein Register für psychisch Kranke an. Was halten Sie von solchen Vorschlägen?

Da muss man differenzieren. Das Führen von Listen psychisch erkrankter Menschen lässt uns an ganz finstere Zeiten deutscher Geschichte erinnern und ist absolut abzulehnen. Das frühzeitige Erkennen von psychischer Belastung ist hingegen EU-rechtlich festgelegt, wird aber in Deutschland nur sehr begrenzt umgesetzt. Gemeint ist eine systematische Erhebung besonderer Schutzbedarfe. Das wäre dringend notwendig, müsste aber mit einer angemessenen Versorgung verknüpft werden.

Vielen Dank für das Gespräch!

Artikel aus der Ausgabe:

Kein Bargeld, kein Problem?

Die Gesellschaft wird bargeldloser – was bedeutet das für Arme und Obdachlose? Eine Spurensuche in Schweden. Außerdem: Wie Sie Hinz&Kunzt mit dem Handy bezahlen können, wo Sie in Hamburg Filmkunst aus Osteuropa sehen können und worunter die Psyche von Geflüchteten leidet.

Ausgabe ansehen
Autor:in
Benjamin Buchholz
Benjamin Buchholz
Früher Laufer, heute Buchholz. Seit 2012 bei Hinz&Kunzt. Redakteur und CvD Digitales.

Weitere Artikel zum Thema