Sachlich berichtete Reporter Christian Unger vor Ort in Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze über die Fluchtkrise. Nur was tun, wenn einem daheim eine SMS eines verzweifelten Flüchtlings erreicht mit der Frage: „Was sollen wir tun?“
(aus Hinz&Kunzt 278/April 2016)
Abends brummt mein Handy, eine SMS von Ali. Eine Nachricht aus dem Schlamm. Er schreibt nur ein paar Worte, es gehe ihm gut. „Aber wir sind alle sehr müde.“ Er, seine Frau Shorooq, die kleine Tochter. Noch immer hocken sie in einem der vielen Zelte neben dem Dorf Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze, so wie Tausende andere Geflüchtete. Seit fast 20 Tagen geht nichts mehr. Doch an diesem Tag machen sich viele Iraker, Syrer und Afghanen auf den Weg, raus aus dem Camp, illegal über die Grenze, irgendwie, irgendwo. Ich sehe die Bilder im Fernsehen. Und Ali fragt mich: „Sollen wir es auch versuchen?“
Ich liege zuhause auf meinem Bett, schaue auf mein Handy und weiß nicht, was ich antworten soll.
Die Kälte einer Märznacht legte sich wie eine Decke über Idomeni, als ich die Familie aus dem Irak zum ersten Mal treffe. Ali und Shorooq saßen auf einer Bierbank vor einem Zelt, in dem Helfer Plastiktische für die Kinder im Camp aufgebaut haben. Sie verteilten Buntstifte und Papier, die Kinder malten Blumen, Herzen, Häuser. Bilder, wie sie auch Kinder zeichnen, die keinen Krieg hinter sich gelassen haben. Flucht in einen Alltag. Auch Alis und Shorooqs Tochter malte im Zelt. Und die Eltern hockten draußen und froren.
Ich wollte ihre Geschichte hören. Wollte wissen, wie es ihnen geht. Aber als erstes fragten sie mich: Wann wird die Grenze nach Mazedonien geöffnet? Was wird mit uns? Sollen wir zurück in die Türkei? Alis Augen schrien mich an – so wie mich jetzt seine Nachricht auf meinem Handy anschreit: Sag uns doch, was wir tun sollen! Hilf uns!
Ich bin Reporter. Fünf Tage war ich an der Grenze zu Mazedonien unterwegs, davor auf dem Balkan und der griechischen Insel Lesbos. Immer wieder fragen die Geflohenen: Was sollen wir tun? Du kommst doch aus dem Land, in das wir alle wollen. Deutschland. Und ich sage: Ich weiß auch nichts. Ich bin kein Grenzpolizist, kein Politiker. Billige Worte. Sätze ohne Risiko.
Journalisten sollen sich nicht gemein machen mit einer Sache. Reporter beobachten nur. Das ist die Theorie. Ich schiebe meinen Notizblock zwischen mich und das, was ich sehe: weinende Väter, kreischende Kinder, wütende Frauen. Ich klammere mich an den Kugelschreiber. Aber zuhause merke ich, dass ich mehr mitbringe aus Idomeni als nur Notizen. Schlimme Bilder. Gedanken. Alis Handynummer.
Ich antworte ihm: Ich kann Dir nicht helfen. Nur raten: Sei vorsichtig, Menschen starben im Fluss, als sie illegal nach Mazedonien wollten. Ich schreibe, dass die Grenze wohl dicht bleibe, das habe der mazedonische Präsident verkündet. Ich spreche mit einem verzweifelten Familienvater – und rette mich in Nachrichtensprache.
Dann fragt Ali, ob ich ihm Bilder von meinem Zuhause in Deutschland schicken könnte. Fotos aus der warmen Wohnung in das Zelt im Schlamm. Ich schäme mich. Vielleicht, denke ich, werden diese Fotos zu Alis Durchhalteparolen im ewigen Ausharren auf der Flucht. Vielleicht blenden sie ihn mit neuen Träumen, die sich nie erfüllen. „Ali, ich bin gerade nicht zuhause“, schreibe ich vom Bett aus. „Schicke Fotos später.“ Ich erlüge mir Zeit. Ich flüchte selbst.
Text: Christian Unger
Foto: privat
Christian Unger arbeitet als Reporter im Hauptstadtbüro der Funke Mediengruppe. Ihr gehört auch das Hamburger Abendblatt.