Hinz&Künztler André

„Ich will ganz neu anfangen“

Hinz&Künztler André mit seinem „Goldstück“ Nelly. Foto: Mauricio Bustamante

André (52) verkauft Hinz&Kunzt bei der Europa Passage am Ballindamm.

Hinz&Kunzt Randnotizen

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Nelly läuft schnurstracks zu Susanne Wehde, die bei Hinz&Kunzt das Geld mancher Obdachloser verwaltet. Die kniehohe Mischlingshündin weiß genau, dass es dort ein Leckerli gibt. Herrchen André lacht und sagt: „Nelly kennt hier fast alle.“ Dabei gehen die Hundedame und der Hinz&Kunzt-Verkäufer erst seit rund eineinhalb Jahren beim Straßenmagazin ein und aus.

Ein Mitglied des Verkäuferrats brachte André mit zu Hinz&Kunzt. Beide lebten damals gemeinsam in einer Unterkunft für Wohnungslose. „Er hat mir geraten: ,Probier das doch mal aus‘“, erzählt André. „Und gleich dazu gesagt: ,Du musst durchhalten, auch wenn der Anfang schwer ist.‘“ Diesen Rat hat der 52-Jährige beherzigt – obwohl er zunächst teils stundenlang „für ein Butterbrot und ein Ei“ an seinem Verkaufsplatz am Ballindamm gestanden habe. Inzwischen laufe es aber besser. „Dank Nelly. Eigentlich verdient sie unser Geld“, sagt André mit Blick auf sein „Goldstück“, wie er die bei der Kundschaft beliebte Hündin zärtlich nennt. Zu Hinz&Kunzt steht André voll und ganz: „Früher habe ich das Magazin selber gekauft. Ernsthaft!“, sagt er. „Ich fand das immer gut. Da stehen viele Artikel drin, die einem weiterhelfen. Auch wenn man oben ist. Und jetzt verkaufe ich das.“

Jetzt, wo er unten ist. Schon lange hat André ein Suchtproblem. Mit Mitte 20 fand er eines Tages nach der Arbeit seine Frau tot in der Wohnung. „Danach war mir alles egal“, erzählt er. Um sich zu betäuben, griff er zu harten Drogen. Ganz abgestürzt sei er zum Glück nie. Seit Jahren nimmt er die Ersatzdroge Subutex, um kein Heroin mehr spritzen zu müssen. So konnte der gelernte Maschinenschlosser weiter ein vergleichsweise normales Leben führen und durchgehend in seinem Beruf arbeiten.

Doch dann wurde seine Mutter pflegebedürftig. Im Dezember 2020 kündigte André Job und Wohnung und zog zu ihr in die Lüneburger Heide. Ein Fehler, wie André rückblickend weiß: „Man will es am Anfang nicht einsehen, aber ich war maßlos überfordert.“ So sehr, dass seine Zündschnur immer kürzer wurde. Gleichzeitig stieg sein Alkoholkonsum. In der Folge rastete er mehrfach verbal aus – so auf dem Amt – wofür er vor Gericht landete und Arbeitsstunden aufgebrummt bekam. Die Pflege der Mutter wuchs ihm derweil komplett über den Kopf. Irgendwann realisierte er: „Ich muss hier weg. Entweder jetzt hilft jemand, oder sie wird hier sterben.“

Dann ging alles rasend schnell: Das Haus wurde verkauft, um einen Pflegeheimplatz bezahlen zu können. André flüchtete sich zurück nach Hamburg, fand aber keine Wohnung. „Gott sei Dank musste ich nie auf der Straße schlafen“, sagt der Hinz&Künztler, der in verschiedenen Wohnungslosenunterkünften unterkam.

Seitdem kämpft André sich zurück nach oben. Mithilfe von Sozialarbeitenden bekam er vor fünf Monaten wieder eine eigene Wohnung. „In Kiwittsmoor – das ist gut für Nelly, da gibt’s viel Wald“, sagt er. Als Nächstes will er in Therapie gehen, um vom Alkohol wegzukommen. Natürlich nur zusammen mit Nelly und erst, wenn er seine Reststrafe abgearbeitet hat. Das will André vorher erledigen. Denn: „Ich will frei sein und ganz neu anfangen.“

Artikel aus der Ausgabe:

Wovor habt ihr Angst?

Für unseren Humorschwerpunkt haben wir mit Atze Schröder darüber gesprochen, wie sich Comedy verändert hat – und wie er sich selbst weiterentwickelt hat. Zudem haben wir die Clowns ohne Grenzen besucht und mit einer Psychologin über die heilende Kraft von Humor gesprochen. Außerdem im Heft: In Harburg finden Drogenkranke seit mehr als 30 Jahren Hilfe. Doch die Sozialarbeiter:innen des Abrigado fühlen sich allein gelassen.

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Autor:in
Annette Woywode
Chefin vom Dienst für das gedruckte Magazin