Phantasie braucht kein Licht: Wie der blinde Student Jan Twesten (28) Hamburg erlebt
(aus Hinz&Kunzt 144/Februar 2005)
Hamburg. Das ist die geilste Stadt überhaupt. Hier bin ich aufgewachsen, hier will ich bleiben. Doch gesehen habe ich meine Stadt noch nie. Dafür höre ich sie täglich, fühle, rieche und schmecke sie – und das wohl intensiver als viele andere.
Von Geburt an blind, habe ich das „typische Hamburg“ nie in Augenschein nehmen kön-nen. Ich weiß nicht, wie bunt die Lichter vom Kiez sind, wie grau ein Hamburger Regentag, wie blau das Trikot der HSV-Spieler oder wie kräftig die Farbe der Currywurst. Dafür habe ich den Kiez gehört, den Regen gespürt, die Fußballspieler gerochen, die Wurst ge-schmeckt – meine Behinderung hindert mich nicht am Leben.
In Stellingen aufgewachsen, habe ich ab dem fünftem Schuljahr eine Integrationsklasse besucht. Mit 14 wollte ich Rockstar werden, mit 15 habe ich mich für Mädels, Musik und Drogen interessiert. Mein Abitur hab ich mit 22 bestanden, dann mit dem Studieren begonnen. Soziologie, mittlerweile im 13. Semester. Meine eigene Bude habe ich seit vier Jahren und bin glücklich mit meiner Unabhängigkeit, denn ich verlasse mich nicht gerne auf andere. Einen Blindenhund brauche ich nicht, im Blindenverein bin ich auch nicht. Das Zusammengeglucke kann ich nicht ab, mit vielen anderen Blinden komme ich einfach nicht klar. Ich kann nicht sehen, doch bewegen kann ich mich wie jeder andere. Meine Hände lernen das Sehen immer wieder neu. Der Stock tastet sich voran. Das ist mein Leben, das ist normal.
Hamburg ist ein Puzzle. Die Stadt formt sich in meinem Kopf. Hamburg, das ist der Kiez, die Kneipen, Konzerte, der Hafen, der Elbstrand. Der Stadtpark ist einer meiner Lieblingsplätze, die Krähenwiese im Sommer. Ich bewege mich dort viel, alleine und mit Freunden.
Barmbek, Wandsbek, die Uni-Gegend, Stellingen, das sind bekannte Stadtteile. Zu anderen Orten in Hamburg habe ich wenig oder keinen Bezug. Billstedt etwa wirkt unheimlich. Man kommt aus dem Bahnhof heraus und es ist meist still und zugig. Ich spüre die Hochhäuser, sie sind unangenehm und kalt. Auch die Leute sind erschreckend. Das erste, was ich aus einem Hausflur hörte, war: „In diesem beschissenen Haus gibt’s nichts außer Rechnungen.“ Menschen prägen ihre Umgebung.
Die Schanze, die Flora haben für mich dagegen Atmosphäre. Ich sauge die Stimmung auf, ein Bild zu dem Viertel macht sich von selbst in meinem Kopf zurecht. Der Kiez ist unverkennbar, hervorragend zum Feiern, aber auch ein Ort, an dem es jede Menge Psychopathen zu geben scheint. Vielleicht ist es manchmal sogar besser, sie nicht sehen zu können… Hamburg heißt auch Schmuddelwetter. Ich liebe es, die auffrischende Feuchtigkeit zu spüren.
Nicht nur meine Hände, auch meine Ohren haben zu sehen gelernt. Für viele Nicht-Sehbehinderte eine verkehrte Welt. Den Michel zum Beispiel habe ich schon im Kindergarten gehört. Für mich ist er ein Ort wie jede andere Kirche: ein großer Raum mit schöner Akustik. Um diese auszu-testen, habe ich von der Empore herabgeschrien und mir eine von meiner Kindergärtnerin eingefangen. Warum man die Kirche zwar sehen, aber nicht hören darf, habe ich damals nicht verstanden. Manchmal lebt man doch in einer anderen Realität, das gegenseitige Verständnis zwischen der sehenden und blinden Welt fehlt.
Den Wunsch zu sehen habe ich eigentlich nicht. Phantasie braucht kein Licht, so wenig wie viele andere Dinge im Leben. Wünschen würde ich mir aber, dass es die Hindernisse nicht gäbe, die sich mir als Blinder immer wieder entgegenstellen. Wie die Schwierigkeit, einen Beruf zu finden, der Spaß bringt und in dem man gleichberechtigt aufgenommen wird. Ich habe schon Träume, die sich aufgrund meiner Behinderung wohl nicht verwirklichen lassen. In einer eigenen Motorradwerkstatt rumschrauben oder einen Plattenladen eröffnen – blind sehe ich da kaum Chancen.
Allein der Alltag ist oft genug ein Abenteuer und lässt mich manchmal auch an die Grenzen des Möglichen gehen. Ich möchte nur nicht abgeschoben werden, nicht ausgegrenzt, nur weil mir das Tageslicht fehlt.
Seit einem Jahr arbeite ich beim „Dialog im Dunkeln“, führe Besucher durch die Räume der Ausstellung und versuche, ihnen so eine andere, meine Welt näher zu bringen, in welcher der Einsatz von Gehör-, Geruchs- und Geschmackssinn neue Perspektiven eröffnet.
Die Arbeit ist spannend, manchmal aber auch erschreckend. Einige Leute scheinen plötzlich nur noch in zwei Dimensionen zu denken, sobald sie visuell nichts mehr von ihrer Umwelt wahrnehmen können. Mit ihrem Augenlicht verschwindet auch ihr räumliches Denken, der selbstverständliche Umgang mit Hindernissen, ihr Selbstvertrauen. Nicht sehen zu können lässt sie an den einfachsten Problemen scheitern. Stoßen manche gegen eine Wand, jammern sie, dass sie nicht weiterkommen. Sie sind aufgeschmissen, wissen nicht, was sie tun sollen. Diese Menschen sind zu stark auf das Sehen fixiert und trauen ihren anderen Sinnen nicht mehr.
Eine Stadt ist viel größer als unsere lichtlosen Ausstellungsräume – und doch komme ich blind immer vorwärts. Eine gewisse Vorsicht und Kon-zentration werden selbstverständlich und lösen die Angst im Dunkeln ab. Die Mauer ist Halt und Wegweiser zugleich. Torbögen kann man hören, große Straßen kündigen sich an. Die Stadt gibt mir genügend Anhaltspunkte, um sie normal zu erleben.
Doch ist eine Stadt mehr als ihr Äußeres. Sie lebt von ihren Menschen, von Geräuschen, Geschwätz, Gerüchen. Vielleicht nehme ich Dinge wahr, die viele leicht übergehen und nicht einmal sehen. Und genau die machen für mich meine Stadt aus.