Die ehemalige Kindersoldatin China Keitetsi schreibt Bücher, um ihre Traumata zu verarbeiten – und kämpft so für eine bessere Zukunft
(aus Hinz&Kunzt 176/Oktober 2007)
Nur weil jemand ein Buch über seine Vergangenheit geschrieben hat, heißt das nicht, dass es der Person leicht fällt, immer wieder darüber zu sprechen. China Keitetsi war Kindersoldatin in Uganda, konnte fliehen und lebt heute in Dänemark. Zusammen mit der Hamburger Schriftstellerin Bruni Prasske hat sie jetzt ihr zweites Buch geschrieben.
Immer wenn die Fragen persönlicher werden – und das werden sie zwangsläufig ziemlich oft –, bewegen sich ihre Hände: Erst liegen sie ruhig im Schoß, dann werden sie unruhig, und schließlich wandern sie hoch zu ihrem Gesicht. Meist schüttelt China Keitetsi dann vehement den Kopf. „Das steht in meinem Buch“, sagt die 31-Jährige.
Aber dann spricht sie zum Glück doch. Wir sitzen auf dem sonnigen Balkon der Hamburger Autorin Bruni Prasske. Die beiden haben „Tränen zwischen Himmel und Erde“ geschrieben, China Keitetsis zweites Buch. Man hat das Gefühl, das Schreiben ist eine Art Therapie. Ähnlich wie beim ersten Buch, das China in Dänemark schrieb, als sie immer wieder heimgesucht wurde von Bildern aus der Vergangenheit. Verzweifelt rief sie dann eine Sozialarbeiterin an, mitten in der Nacht, sie musste diese Bilder einfach loswerden: Bilder von Menschen, die sie selbst umbrachte, Bilder von anderen Kindern, die umgebracht wurden – und Bilder von dem Kind, das sie selbst war und das von anderen Soldaten missbraucht wurde.
Die dänische Sozialarbeiterin riet ihr, die Albträume in Worte zu fassen. Sie schrieb, schrieb, schrieb, die ganze Geschichte ihrer Kindheit.
Neun Jahre alt war sie, als sie von zu Hause fortlief. Aber was heißt zu Hause? „Meine Mutter kannte ich gar nicht“, sagt sie. „Die war abgehauen, als ich noch klein war.“ Ihr Vater versorgte sie mehr schlecht als recht. Er hatte neu geheiratet, die Kinder aus erster Ehe wurden eher wie Dienstboten behandelt denn als Kinder. „Nie bin ich mal in den Arm genommen worden.“ Häufig wurde sie geschlagen. Sie wollte nur weg.
Kurze Zeit später wird sie von ugandischen Rebellen aufgegriffen und rekrutiert. Es handelt sich um die Widerstandsarmee des heutigen Staatspräsidenten Yowere Museveni. Jetzt, auf dem Balkon im Schanzenviertel, will sie nicht darüber sprechen. Ihre Miene verdüstert sich.
Aber in ihrem Buch hat sie es ausgeführt: Kinder bekommen Gewehre und lernen, Menschen zu töten. China wird, wie die meisten Mädchen, von den Rebellen missbraucht. Mit 14 lernt sie Drago kennen, einen anderen Soldaten, der zu ihr steht. Von ihm wird sie schwanger. Sie kann es nicht fassen. „Schwanger? Ich wusste bis dahin gar nicht, dass Soldaten schwanger werden können“, sagt sie. Auch als Moses geboren ist, bleibt sie weiter Soldatin und kämpft. Manchmal ist Moses „irgendwie“ dabei, manchmal ist er bei ihrer Schwester.
Nachdem Rebellenführer Museveni an der Macht ist, wird sie Leibwächterin eines hohen Funktionärs, später wechselt sie zur Militärpolizei. Aber der Funktionär fällt
in Ungnade und wird umgebracht. Obwohl sie nicht mehr bei ihm arbeitet, wird sie jetzt selbst zur Zielscheibe der ehemaligen Rebellen. Und nicht nur das: Auch als hochrangige Soldatin wird sie von ihrem Vorgesetzten missbraucht. Irgendwann desertiert sie und flieht nach Südafrika.
Sie ist wieder schwanger, schlägt sich in Kneipen als Tellerwäscherin durch, flieht weiter, lässt sogar ihre kleine Tochter zurück und schläft auf der Straße. Ins Obdachlosenasyl will sie nicht. „Mit den Menschen dort wollte ich nichts zu tun haben. Sie wirkten auf mich verrückt, die meisten tranken.“ So wie sie selbst. Sie versucht, sich durchzuschlagen, allein. „Ich hatte Angst vor allen Menschen und konnte kaum schlafen.“
Lange kann sie sich nicht verstecken. Der Geheimdienst Ugandas spürt sie auf, in einer Wohnung in Johannesburg wird sie schwer gefoltert. Als die Männer sie nach Uganda verschleppen wollen, kann sie an einer Ampel aus dem Auto springen und untertauchen.
Zu einem weißen Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde fasst sie Vertrauen. Er vermittelt sie an ein Therapiezentrum der Vereinten Nationen für Traumatisierte. 1999 kommt China mit Unterstützung der UNO nach Dänemark, wo sie heute noch lebt. Dänemark, von dem sie nicht mal wusste, wo es liegt. Dänemark, wo ihr alles so heil vorkommt: „Kinder, die an der Hand ihrer Mutter laufen und von ihr in den Arm genommen werden.“ Kinder, die Spielzimmer haben, „ganz in Rosa, mit rosa Tapeten, rosa Vorhängen, rosa Bettwäsche“. Man spürt, dass sie selbst gern das Kind wäre, eine liebevolle Mutter hätte und selbst gern mit all den schönen Sachen spielen würde. „Mein Leben war nie rosarot“, sagt sie traurig.
Inzwischen hat sie viel bewältigt. Sie ist nicht mehr alkoholabhängig. Wie sie das geschafft hat? Ihre Antwort wirkt fast kindlich: „Ich habe eines Tages gesagt: ‚Gott, wenn ich wieder trinke, tu mir etwas Schreckliches an!‘ Das war eine große Herausforderung. Denn ich wollte unter keinen Umständen, dass er mir etwas Schreckliches antut.“ Und sie hat wieder Kontakt zu ihren Kindern, sieht sie regelmäßig in Afrika. „Das gibt mir viel Kraft“, sagt China.
Kraft, die andere nicht haben. Viele Kampfgefährten von einst, die wie sie noch Kinder waren, haben sich umgebracht. Andere sind drogenabhängig, die meisten stecken nach wie vor voller Aggression und Hass. „Diesen Hass habe ich mühsam überwunden“, sagt sie. „Es tut weh, wieder zu fühlen, und es ist anstrengend, den Hass nicht wieder hereinzulassen.“
Besonders helfen ihr dabei ihre Begegnungen mit Menschen, die sie seit dem Erfolg ihres ersten Buches getroffen hat: Bill Clinton, Kofi Annan – und vor allem Nelson Mandela. Der südafrikanische Expräsident saß selbst jahrzehntelang im Gefängnis und hat, als er mächtig war, nicht die Spirale der Gewalt weitergedreht, um sich für alles zu rächen. Auch solche Begegnungen geben ihr Kraft.
Kraft, die sie für ihre Mission braucht. Denn sie reist mit ihrer Botschaft um die ganze Welt: „Jeder erwachsene Mensch ist verantwortlich für das Wohlergehen von Kindern in dieser Welt. Jeder Erwachsene, der einem Kind die Kindheit raubt, sollte für seine schwere Schuld zur Rechenschaft gezogen werden.“
Sie weiß nicht, wie lange sie noch Kraft für ihre Arbeit hat. Denn das Erzählen reißt die Wunden immer wieder auf. Irgendwann, vielleicht schon bald, will sie ihren Namen ändern – und endlich ein normales Leben führen. Wenn sie das kann.