Hamburg zögert noch, aber in Berlin funktioniert es schon: Housing First bringt Obdachlose in Wohnungen. Für das Pilotprojekt gibt es viel Lob. Sozialsenatorin Elke Breitenbach will damit das ganze Hilfesystem reformieren.
Der Altbau mit der in frischem Hellblau getünchten Fassade und den Balkonen zur Straße sieht ganz und gar nicht aus wie eine Obdachlosenunterkunft. Neben dem Holztor zum typischen Berliner Hinterhof hat sich ein Fotoatelier angesiedelt, erste Blumen blühen davor im Beet. Der Volkspark Friedrichshain ist in Gehnähe, die Verkehrsanbindung lässt kaum Wünsche offen. Hier eine Wohnung zu bekommen, ist angesichts der angespannten Lage auf dem Wohnungsmarkt nicht leicht. Trotzdem ist einer jungen Frau, die bis vor Kurzem noch auf der Straße gelebt hat, genau das jetzt gelungen. Ein Hauptgewinn im Lebenslotto.
Im Büro von Corinna Müncho ist das hellblaue Haus im gentrifizierten Bezirk Prenzlauer Berg ein Stecknadelfähnchen neben vielen anderen auf einer Berlin-Karte an der Wand. „Mit unseren Wohnungen decken wa querbeet allet ab, was die Stadt zu bieten hat“, berlinert sie stolz und fährt mit dem Finger über die Karte: Hier ein 1960er-Jahre-Bau am Stadtrand, dort ein Neubau in Neukölln, darüber ein Plattenbau in Marzahn-Hellersdorf. Dort überall wohnen ehemalige Obdachlose.
„Mit unseren Wohnungen decken wa querbeet allet ab, was die Stadt zu bieten hat.“– Corinna Müncho
Die 42-jährige Müncho leitet das Projekt „Housing First Berlin“. Sie wurde von der Stadt damit beauftragt, Obdachlose unterzubringen – nicht in Sammelunterkünften, sondern in ganz normalen Wohnungen. Und zwar ohne viele Vorbedingungen. Schon 70 Menschen haben Münchos Team und ein Partnerprojekt in den vergangenen drei Jahren von der Straße geholt. Viele von ihnen waren psychisch krank, langjährig obdachlos und für das konventionelle Hilfesystem kaum erreichbar. Die meisten wären von den bisher geltenden hohen Anforderungen vor einem Wohnungsbezug überfordert gewesen, sagt Müncho.
Es ist ein Paradigmenwechsel in der Wohnungslosenhilfe: Um über „Housing First“ eine Wohnung zu bekommen, muss kein Obdachloser vorher beweisen, dass er alleine in den eigenen vier Wänden zurechtkäme. Stattdessen gilt der eigene Mietvertrag als Basis dafür, eigenverantwortlich zu handeln – mit der Unterstützung von Sozialarbeiter*innen. „Wir gehen davon aus, dass jeder Mensch in der Lage ist, zu wohnen“, erklärt Münchow. „Wir müssen gucken, welche Unterstützung wir anbieten müssen, damit das gelingt.“
Der Ansatz „Housing First“ gilt vielen Expert*innen als vielversprechender, moderner Weg aus der Krise der Obdachlosigkeit. Auch in Hamburg beschlossen SPD und Grüne im Januar 2020 nach langen Debatten ein Modellprojekt. Passiert ist seitdem aber kaum etwas. Zum Stand der Umsetzung befragt, antwortete der Senat in diesem Februar auf eine CDU-Anfrage bloß, dass „Planungen und Überlegungen noch nicht abgeschlossen“ seien.
Hochschule empfiehlt Fortführung des Modellprojekts
Das auf drei Jahre angelegte Berliner Modellprojekt hingegen steht bereits kurz vor dem Abschluss. Das Zwischenfazit der Alice-Salomon-Hochschule, die das Projekt wissenschaftlich begleitet, könnte kaum positiver ausfallen: „Aus jetziger Sicht wird eine Übernahme in die Regelfinanzierung nach Ablauf der Modellprojektphase dringend empfohlen.“
Die Frau, die Housing First in Berlin 2018 politisch auf den Weg gebracht hat, vergibt im März nur Telefontermine. Zu groß ist die Sorge der Sozialsenatorin Elke Breitenbach um die Corona-Mutationen. Ihre Sorge mündete jüngst auch in tätige Fürsorge: Als Anfang März Impfdosen in der Hauptstadt ungenutzt im Kühlschrank blieben, zog die Sozialsenatorin kurzerhand die Obdachlosen für die schützenden Piekser vor. Einer von vielen Belegen dafür, dass die Linken-Politikerin für diese Menschen mehr als nur warme Worte übrig hat.
Die 60-Jährige lebt schon seit Jahrzehnten in der Haupstadt. „Überall trifft man hier obdachlose Menschen. Menschen, die komplett auf der Straße leben, mit allen Fürchterlichkeiten und Grausamkeiten, die dazukommen“, sagt sie. „Das ist in Berlin ein wirklich großes Thema, von dem sehr viele Menschen betroffen sind.“ 2019 wurden 2000 Obdachlose auf den Straßen der Hauptstadt offiziell gezählt; Breitenbach geht davon aus, dass es in Wirklichkeit noch mehr sind. „Eine Gesellschaft muss sich daran messen lassen, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht“, sagt sie. Seit ihrem Amtsantritt vor fünf Jahren hat sie das Thema ganz oben auf ihrer Agenda angesiedelt.
In Berlin sind viele in der Wohnungslosenhilfe Engagierte gut auf ihre Sozialsenatorin zu sprechen – auch wenn es intern Bemängelungen gibt. „Ich könnte meine Kritik an ihrer Politik auch über die Medien verbreiten“, sagt der langjährige Leiter der Bahnhofsmission Dieter Puhl über die Senatorin. „Das muss ich aber gar nicht, denn ich werde gehört.“ Der Netzwerker schildert Elke Breitenbach als Politikerin, die mit Herzblut für die Sache der Obdachlosen arbeitet – und auch schon mal um 23 Uhr auf seinem Handy anruft, wenn es eine akute Notlage zu beseitigen gilt.
Sozialsenatorin Breitenbach will bis 2030 Obdachlosigkeit überwinden
Auch Corinna Müncho von „Housing First“ ist nicht unkritisch: „Der Status Quo ist überhaupt nicht zufriedenstellend.“ Die Standards in manchen Notunterkünften etwa sind miserabel, und wie in Hamburg müssen die Gäste dort morgens raus. Auch in Berlin lassen die Bezirke Platten räumen; und als Breitenbach die Obdachlosen von Freiwilligen zählen ließ, fanden manche das „würdelos“. Trotzdem beschreibt Müncho die Stimmung zwischen Helfer*innen und der Senatsverwaltung für Soziales grundsätzlich als gut.
„Wir brauchen ein Hilfesystem, das sich an den Menschen ausrichtet, die die Hilfe benötigen.“– Elke Breitenbach
Vielleicht muss Elke Breitenbach sich auch deshalb so wenig öffentliche Kritik anhören, weil sie es nicht anderen überlässt, die Arbeit der Verwaltung zu bemängeln. Im Winter reichen die Notschlafstätten nicht aus? „Die Kältehilfe läuft zurzeit extrem unbefriedigend“, sagt sie freimütig in einem Interview. Im Januar zog Breitenbach im „Tagesspiegel“ regelrecht blank: „Was die Pandemie bereits wie unter einem Brennglas deutlich gemacht hat, sind die Funktionsdefizite eines Hilfesystems, das Fürsorge zu oft mit Entmündigung verwechselt und zu viele Kreislaufbewegungen innerhalb des Systems, aber zu wenig Auswege in ein selbstbestimmtes Leben weist.“ Klingt zwar nach Opposition, kommt aber von der Regierung.
Statt die Mängel aber nur öffentlich zu geißeln, nennt Breitenbach konkrete Vorschläge, wie die Stadt bis 2030 Obdachlosigkeit überwinden könnte. Zu diesem Ziel haben sich auch schon Bundestag und EU-Parlament bekannt. Die Praktikerin von der Linken will dazu einen Masterplan auflegen – und zügig umsetzen. Das Leitmotiv: Housing First. Bis 2030 soll das Prinzip zum Regelansatz der Berliner Wohnungslosenhilfe werden. Die Zahl der Menschen in Gemeinschaftsunterkünften soll sich bis dahin halbieren. Gegenüber Hinz&Kunzt erklärt die Sozialsenatorin: „Wir brauchen ein Hilfesystem, das sich an den Menschen ausrichtet, die die Hilfe benötigen.“
Nun wird in Berlin im September gewählt. Man könnte ins Feld führen, dass die Linke mit ihrem Vorstoß Wahlkampf betreibe. Corinna Müncho von Housing First Berlin schüttelt den Kopf. „Elke Breitenbach ist seit langer Zeit die Erste, die Obdachlosigkeit wirklich auf dem Plan hat und die das auch angehen möchte“, sagt die Projektleiterin. „Und ich glaube ihr das auch.“