Erst ’ne Wohnung und dann… :
Housing first: Neuer Ansatz in der Wohnungslosenhilfe

Studien beweisen: Obdachlose, die schnell wieder eine Wohnung bekommen und dann im Alltag unterstützt werden, kommen besser klar als die Obdachlosen, die erst jahrelang in Wohnheimen gelebt haben und beweisen mussten, dass sie wohnfähig sind. „Housing First“ heißt der neue Ansatz, der auf einer Fachtagung im Diakonischen Werk vorgestellt wurde.

Es muss ja nicht gleich ein ganzes Haus sein: Studien belegen aber, dass Obdachlose eher wieder Fuß fassen, wenn sie schnell eine eigene Wohnung beziehen können. Foto: Svaantje / pixelio.de

Eigentlich hört sich das ganz logisch an. Wer wohnungslos wird, soll sofort und ohne Umwege über Notunterkünfte wieder in eine eigene Wohnung ziehen. Dort soll er dann von einem Team individuell betreut werden, das ihm bei seinen konkreten Problemen hilft. Housing First (HF) nennt sich der Ansatz, man könnte es übersetzen mit: Erst ’ne Wohnung und dann… Anfang der 90er-Jahre startete die Idee in New York, inzwischen gibt es überall Projekte mit diesem Ansatz, auch in zehn europäischen Städten wird HF erprobt.

Die Studien belegen: Je nach Projekt lebten 78 bis 90 Prozent der ehemals Obdachlosen auch nach zwei Jahren noch in ihrer Wohnung. „Und das gilt auch für Langzeitobdachlose mit Suchtkrankheit und psychischen Problemen“, so Dr. Volker Busch-Geertsema bei der Fachtagung im Diakonischen Werk. Der Sozialwissenschaftler von der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS) ist auch Koordinator der Housing-First-Studien in fünf europäischen Städten. Das gängige und oft auch in Hamburg praktizierte Stufenmodell kritisierte Busch-Geertsema dagegen als „Rutsche in die Ausgrenzung“.

„Obdachlose werden in den Unterkünften in der Regel nur verwaltet.“ 

Das Stufenmodell sieht in etwa so aus: Wer obdachlos wird, muss ganz unten anfangen. In der Regel landet er in einer schlechten und für die Stadt teuren Notunterkunft – und dort in einem Mehrbettzimmer. Ausgerechnet in dieser existentiellen Krise, wo er Ruhe und Zuwendung bräuchte, bekommt er das krasse Gegenteil: unbekannte Zimmergenossen, von denen jeder sein eigenes Päckchen zu tragen hat. Manche sind alkoholabhängig, manche drogenabhängig, die meisten mit den Nerven am Ende.

Dr. Volker Busch-Geertsema koordiniert Housing-First-Studien in fünf europäischen Städten. Foto: Hannah Schuh

Selbst in einem Einzelzimmersei er unnötigem Stress ausgesetzt: „Auch dieses Zimmer ist wieder nur eine Durchgangsstation, auch dort gibt es keine normale Nachbarschaft, von Privatsphäre und Autonomie ganz zu schweigen“, konstatiert Busch-Geertsema. „Obdachlose werden in den Unterkünften in der Regel nur verwaltet.“ Bis der Obdachlose wieder eine eigene Wohnung beziehe, könnten Jahre vergehen. Denn es werde viel von ihm verlangt: Er soll an Hilfeplänen mitwirken, Auflagen der Ämter erfüllen, Therapiebereitschaft zeigen, wohnfähig werden. Doch was eine Lehr- und Trainingszeit für die Obdachlosen sein soll, um fit für das selbständige Leben zu machen, entpuppe sich oft als das genaue Gegenteil. „Viele Obdachlose scheitern auf dem Weg – und sie müssen wieder zurück auf Los.“

Manche Menschen trauen sich nach den Jahren der Heimunterbringung das Wohnen in der eigenen Wohnung kaum noch zu oder schaffen die Anforderungen des tatsächlichen Wohnens schlechter als diejenigen, die ohne Umweg wieder in die eigene Wohnung ziehen konnten. „Man lernt in einer Einrichtung eben andere Dinge als in der eigenen Wohnung“, sagte Busch-Geertsema.Die Zeit, die vergehe, bis ein Obdachloser dann wieder ein die eigene Wohnung komme, sei zu lang. „Auf diesem Weg gehen zu viele Klienten verloren.“ Auch in den Vergleichsstudien kommt das Stufenmodell schlecht weg: Nur 30 bis 40 Prozent derjenigen, die eine Wohnung erhalten hatten, hatten sie auch nach 24 Monaten noch.

Aber HF bedeutet nicht nur den Abschied vom Stufenmodell, sondern auch eine Kehrtwende in der Sozialarbeit, „einen Abschied von der Bequemlichkeit und der Macht der Dienste“, so Busch-Geertsema. Die Sozialarbeiter müssten ganz anders arbeiten: raus aus den Büros und hin zu Obdachlosen. „Sie müssen auch um die Mitarbeit der Klienten werben.“ Das sei bei Housing First gut gelungen, obwohl die Annahme der Hilfe freiwillig ist.

„Die Obdachlosen haben sich in der Regel nicht so gegen die Hilfen gesträubt“, sagt der Sozialwissenschaftler. „Die Probleme, die in der Wohnung bearbeitet werden, sind oft alltäglicher und konkreter, es geht weniger um das große Ganze.“ Und oft werde auch dem Betroffenen erst in der eigenen Wohnung klar, welche Hilfe er braucht. „Probleme mit der Nachbarschaft kann man vorher nicht simulieren.“ Kleiner Anreiz für Kommunen und Kostenträger: „Trotz der intensiven Hilfe durch hochspezialisierte Teams kam es in New York und anderen Städten oft zu erheblichen Kostenreduzierungen, gerade bei den Langzeitobdachlosen“, sagte Busch-Geertsema. Er glaubt sogar, dass die Teams in Deutschland nur in Ausnahmefällen derartig hochkarätig besetzt sein müssten: „In den USA muss der ganze Sozialstaat im Kleinen abgebildet werden – das ist in Deutschland nicht nötig.“

Fazit: Housing First bringe den Menschen mehr Ruhe, mehr Normalität und eine höhere Lebensqualität. Allerdings: „Es macht arme, obdachlose und kranke Menschen nicht plötzlich gesund, reich und glücklich. Wer diese Erwartung hat, wird enttäuscht werden“, sagte Busch-Geertsema. „Es ist keine Suchttherapie und kein Wundermittel gegen Armut und Arbeitslosigkeit.“

„Her mit den Wohnungen und los geht’s!“ 

In der anschließenden Diskussion wurde weniger der Ansatz von Housing First in Frage gestellt als die Bedingungen. Andrea Josefi, Sprecherin der Beratungsstellen, räumte ein, dass bislang die Obdachlosen in die Beratungsstellen kommen müssen. Aber es gebe längst den Ansatz, zu den Obdachlosen zu gehen oder – bei den Fachstellen für Wohnungsnotfälle – Hausbesuche zu machen, um zu verhindern, dass jemand obdachlos wird. Aber es sei aus Personalmangel eben nur bedingt möglich. Ansonsten fände sie den Ansatz spannend. „Ich würde sagen, her mit den Wohnungen und los geht’s!“ Aber das sei genau das andere Problem: Hamburg und der dramatische Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Vermutlich habe sich das Stufenmodell deshalb so gut durchsetzen können, weil es eben keine Wohnungen gebe, so Josefi.

Eine enge Zusammenarbeit zwischen der Wohnungslosenhilfe, Psychiatrie, Sucht- und Eingliederungshilfe –  selbstverständlich in den HF-Projekten –, ist in Hamburg offensichtlich noch Neuland, aber wünschenswert, das zeigten die Reaktionen im Publikum. Auch Bettina Prott von der Sozialbehörde wollte die „Anregungen mitnehmen“.

Der Zeitpunkt der Tagung scheint goldrichtig. Schließlich arbeitet eine Lenkungsgruppe, bestehend aus Behördenmitarbeitern und Vertretern der Wohnungslosenhilfe, gerade an einem neuen Konzept für die Wohnungslosenhilfe. Im Herbst soll es vorgestellt werden. Aber ob Stufenmodell oder Housing First: In Sachen Obdachlosigkeit kann sich nur dann etwas ändern, wenn es auch bezahlbare Wohnungen gibt. „Es würde schon helfen, wenn die Wohnungswirtschaft ihren Kooperationsvertrag mit der Stadt erfüllen und entsprechend Wohnungen zur Verfügung stellen würde“, so Busch-Geertsema. „Und wenn die Stadt bei Grundstückverkäufen den Bau von Wohnungen für diesen Personenkreis zur Bedingung machen würde.“

Text: Birgit Müller

Weiterlesen: Informationen zur Tagung mit dem Beitrag von Dr. Volker Busch-Geertsema.

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