Clara Benthien und ihr Weinkeller waren eine Legende in Hamburgs Kulturszene der 30er-Jahre. Eine Bombe zerstörte den Künstlertreff und „Tante Clara“ geriet in Vergessenheit. Jetzt hat ihre Enkelin Nele Lipp das Hamburger Original und damit ein wichtiges Stück Alltagsgeschichte wiederentdeckt.
(aus Hinz&Kunzt 240/Februar 2013)
Nele Lipp weiß gar nicht, wo sie mit dem Erzählen anfangen soll. Voller Elan läuft die zierliche, lebhafte 64-Jährige von einer Vitrine zur nächsten und bringt immer neue Künstlernamen ins Spiel: Der Wissenschaftler Werner Heisenberg verkehrte genauso bei „Tante Clara“ wie die Sängerin Claire Waldoff, der Maler Robert Schneller und der Dichter Joachim Ringelnatz. Sie schätzten das Kellerlokal Ecke Raboisen/Brandsende vor allem für die künstlerische Vielfalt und die Redefreiheit, die dort während der Nazizeit herrschte. „Außerdem hatte meine Oma ein großes Herz, sie hat viele durchgefüttert. Sie selbst war bescheiden und hatte immer nur zwei Paar Schuhe“, so Nele Lipp.
Clara und ihr Mann Hans betrieben das Lokal gemeinsam. Dabei waren beide keine gelernten Gastronomen, sondern eher künstlerisch veranlagt. Clara war Hutmacherin, Hans Dekorationsmaler. Er besaß einen Malereibetrieb mit mehreren Mitarbeitern sowie Pferden und Leiterwagen für Fassadenanstriche. Im Ersten Weltkrieg wurde er eingezogen. Als er zurückkam, waren seine Mitarbeiter gefallen, seine Pferde tot und in Hamburg war mit dem Malen kein Geld zu verdienen. Hans Benthien eröffnete eine Weinhandlung. „Da mussten die Leute auch probieren“, weiß Nele Lipp. „Aber sie waren immer zu schnell betrunken. ‚Clara, du musst Brote machen‘, lautete seine Lösung.“
Das Stullenschmieren überließ Clara schnell anderen. Sie entwarf lieber Möbel und Lampen für das Lokal. Befreundete Künstler steuerten Gemälde und Schnitzereien bei. Gemütliche Holzbänke mit roten Kissen, die umfangreiche Karte und die gute Stimmung zogen Seeleute und Künstler aus dem nahe gelegenen Thalia Theater und der Kunsthalle an.
„Hier ist der Ort! Für ein freies Wort! Darum gefiel es mir! Am liebsten – hier!“
Auch als das politische Klima durch die Nazis vergiftet wurde, sorgten die Benthiens dafür, dass ihr Lokal liberal und weltoffen blieb. Im Hinterzimmer trafen sich Juden und Freimaurer. Einigen jüdischen Freunden und Bekannten verhalf das Ehepaar auch zur Flucht. Dem Pädagogen Ernst Loewenberg zum Beispiel halfen sie bei der Emigration in die USA, der Modistin Clem Callmann ins Exil nach London. Gästebucheinträge zeugen davon, dass „Tante Clara“, wie sie von allen genannt wurde, die geschätzte Seele der Weinstube war, und rühmen ihren Charakter. „So eine gute Frau habe ich noch nicht früher gesehen. Unsere Mutter. Ich fühle mich wohl in Tante Klaras Lokal“, schrieb ein Seemann. „Hier ist der Ort! Für ein freies Wort! Darum gefiel es mir! Am liebsten – hier!“, hieß es an anderer Stelle. Für manchen hatte Tante Clara eine geradezu magische Ausstrahlung. „An der Ecke von Raboisen, sieben Stufen und dann links, Ihr, die alt – und Ihr die neu sind: Hut ab: Hier wohnt die Sphinx.“
Auch als Moritatensängerin trat die stämmige Wirtin in Erscheinung. Häufig sang sie die damals populären Bänkellieder und zeigte dazu mit einem Stock auf die entsprechenden Bildtafeln. Zum Glück sind alle Moritaten, wenn auch nicht im Original, so doch als Fotos und Texte, überliefert. Sogar zwei Tonaufnahmen hat Nele Lipp noch zwischen Handtüchern verpackt Jahre später auf dem Dachboden gefunden. Der Künstlertreff selbst wurde leider 1944 durch eine Bombe zerstört. Einige Gästebücher und Kunstwerke konnten zum Glück aus den Trümmern gerettet werden.
„Ich wusste lange Zeit wenig von der Vergangenheit meiner Großmutter“, sagt Nele Lipp. „Wir schliefen wegen des Wohnraummangels in der Nachkriegszeit zwar jahrelang gemeinsam in einem Zimmer, aber sie hat kaum etwas erzählt.“ Nach dem Krieg versuchte Clara Benthien einen Neuanfang in der Warburgstraße. Ohne Erfolg. 1962 starb sie.
Woran sich Nele Lipp gut erinnert: dass ihre Großmutter immer die selbst gemalten Bilder ihrer Enkelin gelobt hat. „Mach weiter, das ist gut!“, hat sie gesagt. Die hat das zum Glück beherzigt und Kunst und Schauspiel studiert. Über die eigene künstlerische Tätigkeit geriet die aufregende Biografie ihrer Großmutter viele Jahre lang in Vergessenheit. Umso schöner, dass sie dieser beeindruckenden Hamburgerin jetzt in Form einer Ausstellung – und bald auch in Form eines Buches – ein Denkmal setzt.
Text: Sybille Arendt
Foto: Evgeny Makarov
Treffpunkt Tante Clara: „Hamburgs Sphinx“, Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky, Von-Melle-Park 3, bis 3.3., Mo–Fr, 9–21 Uhr, Sa+So, 10–21 Uhr, Eintritt frei. Das Metropolis Kino zeigt im Februar Filme, die gut zum Kosmos der Ausstellung passen: Sa, 9.2., 17 Uhr, Die Büchse der Pandora (1928, stumm mit Klavierbegleitung); Fr, 15.2., 17 Uhr, Sa, 16.2., 19.30 Uhr, Der Dieb von Bagdad (1940); Sa, 23.2., 17 Uhr, Di, 26.2., 19 Uhr, Die Dreigroschenoper (1931)