In den 1980er-Jahren brennt auf St. Pauli die Luft. Das FC St. Pauli-Museum widmet dem „Kiezbeben“ eine Ausstellung. Autor Frank Keil hat sie angeschaut – und Erinnerungen aufgefrischt. Ein Vorgeschmack auf unser FC St. Pauli-Sondermagazin.
Sommer 1987 auf Wohnungssuche. Das war schon damals nicht einfach, erst recht nicht als Wohngemeinschaft. Aber dann fanden wir eine heruntergerockte Wohnung in einem Altbau auf St. Pauli, der drei Zahnärzten gehörte, die die Krankenkassen betrogen hatten: Einer saß im Knast, einer war auf der Flucht, der dritte empfing uns zigarillorauchend im weißen Bademantel und nahm uns lächelnd die Kaution in bar ab.
Uns war sofort klar, dass wir das Geld nie wiedersehen würden. Aber egal! Wir bezahlten für unsere Vierzimmerwohnung mit Dachterrasse – festhalten! – schlappe 500 D-Mark. Alles zusammen. Aber entscheidend war: St. Pauli. Der Kiez. Das fröhliche Durcheinander. An der S-Bahn-Station Reeperbahn aussteigen und sagen zu können: „Übrigens, ich wohne hier“, das war ultra. Gleichzeitig trat der Fußball in unser Leben.
Nicht der Fußball allgemein und schon gar nicht der HSV. Sondern: der FC St. Pauli. Wir beugten uns mit einem Mal über Tabellen und fachsimpelten, ohne wirklich Ahnung zu haben, über Aufstieg und Abstieg von Mannschaften in verschiedenen Ligen, murmelten Namen von Spielern und Trainern mit einer Inbrunst, als ob wir sie persönlich kennen würden: der Volker, der Klaus, der Schulte. Der FC St. Pauli wurde unser Verein und das Viertel wurde unser Viertel. Dazwischen sollte kein Blatt passen.
Zuschauer*innen nicht vorgesehen
Und nun stehe ich in der Ausstellung „Kiezbeben“ im FC St. Pauli-Museum, die genau in diese Zeit zurückführt, und es ist alles so lange her und auch nicht. Der Aufbruch, die Euphorie, die Gesänge von uns Fans, die durch den Stadtteil wehten und bis heute wehen.
Es wird anhand von Fotos und Plakaten aber auch klar, dass es diesen Fußballclub, dem wir so überschwänglich ohne Vorleistungen einzufordern unsere Sympathien schenkten, schon vorher gab und er ein ganz normaler, biederer Fußballverein war. Überwiegend angesiedelt in der Oberliga. Wo in der Halbzeit Dixieland-Jazz gespielt wurde statt Punk oder Hardrock. Wo Zirkus-elefanten auftraten und Kunststücke vollführten. Wo Herren mit Hüten und in beigefarbenen Trenchcoats gesittet in den Kurven standen und Frauen als Zuschauer*innen nicht vorgesehen waren. Wo man 1980 den 70sten Geburtstag nicht weiter feierte, weil es nichts zu feiern gab.
Denn der Gerichtsvollzieher ist damals ein häufiger Gast, der Verein ist oft nahezu pleite. „Aber das war der Stadtteil ja auch“, erzählt der Ausstellungskurator und Clubkenner Christoph Nagel. Als Jugendlicher war er beim Cuxhavener Sportverein unterwegs, bis er nach Hamburg kam und sofort dem FC verfiel.
„Die Hafenstraße hat das Herz des Stadtteils zum Schlagen gebracht – und später das Millerntor.“– Christoph Nagel, Ausstellungskurator
Und dann werden im Oktober 1981 heimlich die leeren Hafenstraßenhäuser Wohnung für Wohnung besetzt. Während drumherum die Häuser sich selbst überlassen werden und immer weiter verfallen. Während der legendäre Fischmarkt planiert wird und an seiner Stelle eine vierspurige Schnellstraße die Hamburger von Altona in die Innenstadt leitet, ohne St. Pauli queren zu müssen: schnell durch, schnell weg. Man könnte den Stadtteil wunderbar abhaken und vergessen. Gäbe es nicht diese Hafenstraße. Und das, was sie ausstrahlt: Protest und Depression. Tristesse und Trotz. Da zuckt was.
„Die Hafenstraße hat das Herz des Stadtteils zum Schlagen gebracht – und später das Millerntor“, schwärmt Christoph. Er sagt: „Wenn der Club damals schon in der Ersten Liga gewesen wäre, hätten die Hafenstraßenleute vielleicht volle Ränge vorgefunden und hohe Ticketpreise.“ Und wer weiß, ob sie und ihre wachsende Anhänger*innenschaft dann so treu ans Millerntor gepilgert wären.
„So aber war das Stadion leer, da konnten die Hafenstraßenleute bequem gucken, da haben weder Nazis noch sonst wer gestört, und auf dem Platz war es ja auch leer“, erzählt Christoph. Also hatten sich junge Talente wie Volker Ippig oder Jürgen Gronau recht früh beweisen können, was auch für ihre spielerische Entwicklung sehr gut gewesen ist: „Als der Club in die Erste Bundesliga kam, waren viele aus der Drittliga-Zeit noch dabei.“ Und die neuen Fans hatten diesen Weg begleitet, wenn nicht geebnet.
Wobei aus heutiger Sicht noch nicht alles rund ist: Als im Juni 1986 nahe der U-Bahn-Haltestelle Feldstraße und damit wenige Meter vom Stadion entfernt Hunderte von Atomkraftgegner*innen von der Polizei einen Tag lang eingekesselt wurden, kümmerte das kaum einen Fan. Das sollte sich ändern: Fußball und Politik verzahnen sich, gehen bald Hand in Hand. Die nächsten Jahre bebt das Viertel. Und zwar heftig.
1987 wird der Kampf um die Hafenstraßenhäuser vorläufig entschieden: Die Bewohner*innen bekommen einen Vertrag, die Polizei mit ihren Wasserwerfern und Räumpanzern rückt endgültig ab. Dazu steigt der FC St. Pauli im Mai 1988 in die Erste Liga auf. Ein Club, der ein Stadion hat, wo es in die Umkleidekabinen schon mal reinregnet. Auf das Wunder in der Hafenstraße folgt das Wunder am Millerntor. Ein traditioneller Fußballclub hat sich neu erfunden, dreht sich auf links.
„Es ist gewaltig, was sich damals in wenigen Jahren alles änderte“, erinnert sich Christoph und macht klar, dass all das nicht im luftleeren Raum geschieht: Die Grünen werden eine solide Partei, das Privatfernsehen schaltet sich dazu. Erste Mobiltelefone und Computer tauchen auf; man hört vage etwas von diesem – Internet. Die DDR wird sich auflösen, der ganze Ostblock.
Wie kraftvoll der Mythos vom Underdog-Club wirkt, wird etwa deutlich, als in der Hinrunde am 5. November 1988 im Millerntor-Stadion der finanzstarke FC Bayern auf den armen Verwandten FC St. Pauli trifft: „Die Bayernspieler sind mit Münzen, mit Gemüse, auch mit Bierdosen beworfen worden, heute würde man so ein Spiel nach 20 Sekunden abbrechen“, erzählt Christoph.
Bayern-Spieler wird von Tomate gestreift und äußert sich begeistert
Aber der Schiedsrichter kann keine Gefährdung der Spieler erkennen, der FC-Bayern-Präsident lobt die tollen Fans, die vielleicht nicht immer ganz so über die Stränge schlagen sollten. „Auch Olaf Thon, den eine Tomate gestreift hatte, sprach hinterher von einmaligen Fans und einem super Spiel – das kann man sich heute nicht mehr vorstellen“, sagt Christoph.
Doch im Inneren gibt es durchaus Risse zwischen der Vereinsführung und denen, die den Verein auf Händen tragen: 1989 kommt das Präsidium, womöglich leicht erstligabesoffen, auf die Idee, man könne doch eine Multifunktionsarena anstelle des bisherigen Stadions errichten. Mit integriertem Einkaufszentrum, Tiefgarage und verschließbarem Dach. Geplante Kosten: 500 Millionen D-Mark.
St. Pauli-Sondermagazin
Nicht nur die Fans sind entsetzt, sondern auch Mannschaft und Viertelbewohner. Ihre Proteste gegen den „Sport-Dome“ schlagen hohe Wellen. Bald begräbt die Vereinsführung ihre Baupläne in irgendeiner Schublade. Und weil das geklappt hat, der nächste Streich: eine gemeinsame Erklärung von Fans und Mannschaft gegen Rassismus und Diskriminierung.
Dann der sportliche Abstieg. Das entscheidende 1:3 gegen die Stuttgarter Kickers am 29. Juni 1991. Tief deprimiert schlurften wir in den Tagen danach durch das sommerliche St. Pauli, mit hängenden Köpfen, als wäre eine große, ewige Liebe zerbrochen. Es schmerzte, es schmerzte wirklich.
Nur langsam ging das vorbei. So wie es für die Mannschaft runter ging in die Zweite Liga, in der sie ein paar Jahre blieb – und endlich wieder Aufstieg in die Erste Liga, dort blieb von 1995 bis 1997. Wieder absackte. Trainer wechselten. Spieler kamen und gingen.
Noch anderes geschieht in der folgenden Nachbebenzeit: Die Fans wollen nicht nur Zuschauer*innen am Spielfeldrand oder auf den Tribünen sein. Sie wollen die Geschicke ihres Vereins mitbestimmen, wollen sich engagieren, ganz unabhängig vom Tabellenplatz, auf dem sie ihr Team vorfinden. Fanzines werden gedruckt und verteilt. Fanfahrten organisiert, nicht nur klassisch zu den Auswärtsspielen, sondern 1992 auch nach Rostock-Lichtenhagen, wo eben noch die Neonazis gewütet hatten.
Der Sticker „St. Pauli-Fans gegen Rechts“ wird millionenfach verkauft – und verklebt. Der Fanladen etabliert sich. Aus befristeten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden feste Stellen. Eine eigene Vereinskneipe muss her. Und die Fans schließen sich zur „Arbeitsgemeinschaft interessierte Mitglieder“ zusammen.
Die entdeckt – immer ein Zeichen für Konsolidierung – die eigene Geschichte: Als klar wird, dass dieser Wilhelm Koch, nach dem das Stadion benannt ist, Mitglied der NSDAP gewesen war, ist ebenso klar, dass es umbenannt werden muss. Seit 1999 heißt das Stadion ganz offiziell „Millerntor“. Und damit nicht nur die, die im Verein selbst Sport treiben, dessen Geschicke bestimmen, gründet sich im selben Jahr die Arbeitsgemeinschaft Fördernde Mitglieder (AFM). Ordentlich nach Antrag und mit Mehrheit beschlossen auf der entsprechenden Mitgliederhauptversammlung.
Wir, die Bewohner*innen des Zahnärztehauses, waren den Weg durch die Institutionen schon vorangegangen: Denn unser Haus, noch mit Kohleöfen beheizt, die Fenster einfach verglast, wurde 1993 zwangsversteigert. Wir machten wie gewohnt Rabatz, hängten Transparente aus allen Fenstern, verteilten Flugblätter. Doch der neue Eigentümer bot uns zu unserer Überraschung die sanierungsbedürftige Bude zum Kauf an. Und der Preis war gar nicht unfair.
Wir ließen uns beraten, gründeten eine Genossenschaft, mit ordentlich gewähltem Kassenwart und vom Gericht bestätigter Satzung. Wir zeichneten Kredite, schlossen auch untereinander schriftliche Verträge, standen nun frühmorgens auf, stemmten Wände auf und schleppten Schutt, statt gemütlich auszuschlafen.
Die Schnösel entdeckten St. Pauli
Und unser Haus wurde schick und schicker, so wie der ganze Stadtteil aufgehübscht wurde. Viele der schmuddeligen Ecken verschwanden in den folgenden Jahren nach und nach, die Schnösel aus Eppendorf und Othmarschen hatten längst St. Pauli entdeckt, waren nun St. Pauli-Fans. Was sonst.
Christoph, der FC St. Pauli-Museumsmann und wohl einer der besten Kenner seines Vereins, sieht das locker: Solange die Mischung stimme zwischen Underground und Kommerz, sei doch alles gut. Alles und alle hätten Platz auf St. Pauli: die St. Pauli-Ultràs und die Musicalbesucher*innen aus Pinneberg. Die Sextourist*innen, die Flaneure, die Künstler*innentypen, wenn nur alle einander respektieren und in Ruhe lassen. Wenn jede*r Freiraum habe.
Und gleichzeitig sei der Club heute viel politischer aufgestellt als früher. Christoph sagt: „In Präsidium und Aufsichtsrat gibt es heute mehr Verständnis für Fan-Belange als je zuvor.“ Ein aktuelles Beispiel: die Unterstützung des Clubs für den vom Verkauf bedrohten Werk- und Künstlerhof in der Bernstorffstraße 117 in St. Pauli-Nord. Neulich erst wurde auf den Rängen und auf der Stadion-Videowall dazu aufgerufen: „Viva la Bernie!“ So, dass es 30.000 Zuschauer sehen können. Und dann beginnt das Spiel.