Irena, 73, verkauft Hinz&Kunzt vor Rewe in der Walddörferstraße.
Heute klebt ein Verband über Irenas linkem Auge. „Kleine OP, nicht schlimm“, winkt sie ab. Doch sobald Irena lächelt, liegt so viel Wärme in ihrem Gesicht, dass die Augenklappe fast nicht auffällt. Und Irena lächelt viel, als wolle sie so die schweren Kapitel ihrer Geschichte übermalen.
Schwer war es damals, als ihr Mann starb. Zu der Zeit arbeitete Irena als Buchhalterin in Breslau, ihrer Geburtsstadt, die früher „noch Schlesien war“ – diese deutschen Wörter kennt die 73-Jährige. Mit dem Tod ihres Mannes ging es gesundheitlich bergab, Irena rutschte in die Frührente. Doch das Geld reichte nicht. Es waren die Jahre nach der Wende um 1989. „In Polen gab es nur Probleme“, sagt sie. Probleme, an Lebensmittel zu kommen und Arbeit zu finden. Viele verloren ihre Jobs. Als Witwe bei der Schwiegermutter zu wohnen, „war die Hölle“, beschreibt Irena und schüttelt den Kopf, als wolle sie die Erinnerung vertreiben. Einer ihrer vier Söhne lebte in Deutschland. Irena hörte von den Möglichkeiten, Geld zu verdienen, von einem Ort namens Hamburg. Als ihr Sohn vorschlug, nachzukommen, packte sie kurzerhand ihre Sachen und zog in die Stadt, in der sie nun seit 30 Jahren lebt.
Doch die Probleme hörten an der Landesgrenze nicht auf. Wohnung? Schwierig. Irena kam bei einer Freundin unter. Arbeit? Auch schwierig. Für die Buchhaltungsstelle, die das Arbeitsamt vorschlug, reichte Irenas Deutsch nicht aus, trotz mehrerer Anläufe, die Sprache besser zu lernen. „Deutsch ist so schwierig“, sagt Irena mit gerunzelter Stirn. Also nahm sie Putzjobs an. „Von der Buchhalterin zur Reinigungskraft, das war hart“, erinnert sie sich. Doch sie biss sich durch, bis sie sich eine eigene Wohnung leisten konnte – in der sie heute, 25 Jahre später, immer noch lebt. „Ich war zwar ganz unten. Aber ich musste nie auf der Straße leben“, sagt Irena, hörbaren Stolz in der Stimme.
Dann kam der Unfall. Irena fiel eine Treppe hinunter. Im Schnelldurchlauf klingt die Geschichte so: zu kurz im Krankenhaus, miese Behandlung, keine Rentenpunkte. „Wenn man die Sprache nicht gut kann und die Gesetzeslage nicht kennt, wird man leicht ausgenutzt“, sagt Hinz&Kunzt-Verkäufer Lothar, der dolmetscht. Irena wusste: Sie brauchte ein Zusatzgehalt, um die Wohnung zu behalten. Durch einen obdachlosen Bekannten, den Irena in kalten Nächten bei sich aufnahm, erfuhr sie von Hinz&Kunzt. Da ihr Obdachlosigkeit gedroht hätte, durfte sie als Verkäuferin starten. Nun steht Irena seit fast elf Jahren vor Rewe in der Walddörferstraße. Mit Filialleitung und Team versteht sie sich so gut, dass sie inzwischen drinnen verkaufen darf – in den Wintermonaten ein Privileg. „Wenn ich nicht da bin, fragen viele, was los ist. Meine Kunden fühlen sich an wie Familie“, sagt Irena und strahlt. Und ihre richtige Familie? Irena zählt mit beiden Händen auf: acht Enkel, zwei Urenkel. Auch wenn die meisten von ihnen in Polen leben, hat Irena nie bereut, nach Hamburg gekommen zu sein – bis heute.