Am anderen Ende der Welt, in Australien, liegt Altona Beach. Mauricio Bustamante wollte dort fotografieren – und traf zwei Menschen, die er nie vergessen wird
(aus Hinz&Kunzt 193/März 2009)
Da drüben stehen zwei Engel. Das habe ich gleich gedacht. Sie stehen dort, ein Pärchen, etwa 70, 75 Jahre alt. Er hat den Arm um sie gelegt, sie hält eine rote Nelke in der Hand.
Ich bin auf dem Weg nach Altona Beach. Altona Beach in Australien. Auf der Karte habe ich das Nest, etwa 17 Kilometer entfernt von Melbourne gelegen, zufällig entdeckt. Hamburg-Altona – Altona Beach, ich war einfach neugierig, wie dieser kleine Verwandte am anderen Ende der Welt aussieht und was die Menschen dort treiben.
Es war schon abends, halb sieben, als ich mit dem Vorortzug die Stadt verließ. Hilfsbereite Australier hatten mir genau beschrieben, an welcher Station ich aussteigen sollte. Ich machte es so, wie sie mir geraten hatten. Seitdem stehe ich hier, ratlos, laufe ein paar Meter neben dem Gleis entlang, frage Passanten nach Altona Beach. Doch alle sagen nur: Oh no, you’re totally wrong here! Sie sind hier völlig falsch. Beschreiben mir den Weg, woraus ich nicht schlau werde. Recht weit scheint es noch zu sein. Die Gegend hier ist öde, ein Industrie-Vorort. Eine große Straße zerschneidet das Gelände. In etwa einer Stunde wird es dunkel sein. Und nun?
Da drüben steht dieses wundersame Paar. Sie stehen an einer Tankstelle, kein Auto weit und breit, und gucken zu mir her. Ich laufe los, rüber über die breite Fahrbahn, direkt auf die beiden zu. Ich suche Altona Beach! Aber was willst du da? Das lohnt sich nicht. Woher kommst du überhaupt?
Ich erzähle meine Geschichte. Dass ich aus Deutschland komme. Na ja, eigentlich aus Argentinien. Aber nein, da bin ich aufgewachsen. Ich bin Italiener. Und lebe in Hamburg-Altona. Deswegen suche ich Altona Beach. Ich bin Fotograf und will dort fotografieren.
Der Mann versteht sofort: Wir kommen aus Ägypten. Na ja, eigentlich aus Syrien. Wir sind wegen der Arbeit nach Australien gekommen, leben hier in Newport. Ich habe lange in Italien gearbeitet. Als Klavierstimmer. Einmal war ich auch in Deutschland. Zwei Wochen lang habe ich in Hamburg für Steinway am Schulterblatt gearbeitet. Damals habe ich mir Altona angeschaut! Ein Blick zu seiner Frau. Ein leises Kopfnicken, ein stilles Lächeln. Die beiden sind sich einig: Komm mit uns!
Mary und Joseph (sie heißen wirklich so) kommen gerade aus der Kirche. Jetzt wollen sie ihr Auto holen, um mich nach Altona Beach zu bringen. Für die letzten 100 Meter bis zu ihrem Haus brauchen wir ewig. Immer wieder begegnen uns Bekannte. Mary, die bis dahin eher zurückhaltend war, erzählt allen, wer ich bin und woher ich komme. Ich erzähle von meiner Familie, meiner Tochter Valentina. Als Reisender ist man nackt. Sie dürfen alles wissen.
Newport ist schön. Alte Häuser im viktorianischen Stil säumen die Straße. Die Zeit hat schon arg an ihren Fassaden genagt. Aber bald ist Weihnachten, und die Australier beginnen, ihre Häuser über und über mit Lichtern zu dekorieren. Der Schmuck wirkt wie das schöne Kleid an einer reifen Frau. Mary schwärmt für den strahlenden Glanz, will mir alles zeigen. Sie erinnert mich an meine Mutter. Und ich komme mir vor wie der verlorene Sohn, der nach langer Reise heimgekehrt ist.
Zu Hause führt mich Joseph sofort in den Keller. Er sammelt Instrumente und will mir ein Klavier zeigen, das er selbst zusammengebaut hat. Zwei Jahre lang hat er daran gearbeitet. Er steckt einen Stecker in die Steckdose, und das Klavier fängt wie irre an zu leuchten und zu spielen. Er will mir auch noch die anderen 1000 Dinge in seinem Keller vorführen – aber ich muss doch noch nach Altona Beach!
Gemeinsam fahren wir los. Hafenanlagen, Industrie, Silos, große Schornsteine liegen parallel zur Schnellstraße. Die Landschaft zieht im Zeitraffer an mir vorbei. Und endlich: Altona Beach.
Gerade noch rechtzeitig zum Sonnenuntergang erreichen wir mein Ziel. Ein langer Holzsteg führt wie eine Mole hinaus aufs Meer. Da will ich hin. Mary und Joseph bleiben im Wagen. Ich sehe drei Pärchen, die Arm in Arm spazieren gehen, ihren Hund ausführen. Junge Leute, die sich unterhalten, Gitarre spielen, einfach nur aufs Wasser blicken. Da sind Vater und Sohn beim Angeln. Ein paar Touristen aus Neuseeland und aus Australiens größter Stadt Sydney. Erstaunlich viele Menschen sind unterwegs. Alle die, die aus Altona Beach kommen, wissen um das andere Altona in Deutschland.
Niemand ist im Wasser. Altona Beach liegt zu nah am Hafen. Altona Beach ist überhaupt nichts Besonderes. Es ist sehr normal. Einfach. Aber schön.
Plötzlich werde ich unruhig. Was, wenn Mary und Joseph nicht auf mich gewartet haben? Wie lange habe ich fotografiert? Inzwischen ist es Nacht! Ich haste zurück zum Parkplatz – und bin erleichtert. Die beiden Engel sind noch da. Natürlich.
Auf dem Rückweg fahren wir durch die Innenstadt von Altona Beach. Von dem Ort sehe ich nicht mehr viel. Mich hätte das Rathaus interessiert oder die Kirche, eine Schule vielleicht. Aber Mary will mir die Lichter zeigen, die an den Häuserfassaden.
Ich muss zurück nach Melbourne. Mary und Joseph wollen, dass ich zum Essen bleibe. Aber morgen früh geht der Homeless World Cup weiter, ich muss dort fotografieren! So fahren mich die beiden den gesamten Weg zurück in die Stadt.
Es waren nur drei Stunden, die vergingen wie im Rausch. Zum Abschied schenkt mir Mary ein kleines Licht. Für Valentina. Wir nehmen uns in den Arm. Mary weint.
Wahrscheinlich werde ich die beiden Engel nie wiedersehen. Ihr Licht aber wird mich mein Leben lang begleiten.