Es muss nicht immer der Rummel auf der Reeperbahn sein. Manchmal finden die besten Partys in kleinen Kneipen in Wohngegenden statt, wie ein Hinz&Kunzt-Ortstermin in Harburg bei einer Karaokeparty zeigt.
Samstagabend, kurz nach halb neun in Harburg, eine unauffällige Gegend zwischen Hochhäusern und Mehrfamilienkästen. Der nahe Spielplatz ist verwaist, die beiden Supermärkte schließen auch bald, der Waschsalon hat dafür länger offen. Hundehalter:innen drehen gemütlich Gassirunden am üppigen Grünstreifen. Während weiter stadteinwärts Partywillige vorm Spiegel gerade ihre Haare überprüfen und andere gemütlich ihr erstes Weg-Bier aufmachen, liegt hier, in der Nachbarschaftskneipe „Treffpunkt“, bereits ganz viel Liebe in der Luft – bei einer Karaokeparty. „Und diese Biene, die ich meine, nennt sich Maja. Kleine, freche, schlaue Biene Maja. Maja, alle lieben Maja. Maaajaa, Maajaa, Maajaa, Maaajaa, Majaaaa, erzähle mir von dir“ schallt es bis auf die Terrasse heraus. Kein Plastikstuhl und keine Bank sind mehr frei, überall sitzen Menschen und unterhalten sich, es wird laut gelacht, die Gläser und einige der Gäste sind bereits halb voll. Hochstimmung in Harburg.
Altersschnitt? Schwer zu beziffern. Da ist ein sehr jung aussehender Kerl im Sportlerdress, da ist die aufgekratzte Freundinnen-Gruppe 40plus, da ist das schwer verliebte Pärchen in den Dreißigern, da sind Studigruppen und Männer im „besten Alter“. So wie Rainer. Der Schornsteinfeger gibt gerade alles als Karel-Gott-Double. Mit ausladenden Armbewegungen geht der 58-Jährige durch die beiden Räume der Kneipe und fordert die Gäste auf, die Geschichte von der Biene Maja mitzusingen. Die meisten tun das eh schon. „Karaoke ist wie eine Sucht“, wird Rainer nach seinem ersten Auftritt von vielen an diesem Abend sagen. Wenn man sich im „Treffpunkt“ umschaut, glaubt man ihm das aufs Wort: überall nur glückliche Gesichter.
Wie viele Menschen in Hamburg Karaoke singen, kann nur geschätzt werden. Es gibt etliche Karaokebars, die meisten auf dem Kiez. Seit der Japaner Daisuke Inoue 1971 die erste Karaokemaschine erfunden hat, ist das öffentliche Singen eine feste Größe bei abendlichen Freizeitaktivitäten. Karaoke, das wörtlich übersetzt „leeres Orchester“ heißt, hat noch jeden Trend überlebt und feierte in Hamburg zuletzt in seiner Variante als „Rudelsingen“ in großen Gruppen Erfolge. Man kann sich aber auch Separees buchen und dort nur unter Freund:innen zum Mikro greifen.
Was ist das Geheimnis von Karaoke? Die Frage müssen Mandy Jähring und Kevin Rieband beantworten können, sie organisieren alle 14 Tage eine Karaokeparty, immer an wechselnden Orten und immer ohne Eintritt, darauf legen sie Wert. Beruflich haben sie mit Musik nichts am Hut. Er ist Medizin-Informatiker, sie Lebensmittelchemikerin. Bei Kevin ging das mit Karaoke zur Bundeswehrzeit los. An seinen ersten Auftritt auf einer Bühne in der Celler Innenstadt erinnert er sich noch lebhaft: „Ich habe da in meiner Ausgehuniform ‚To the Moon and Back‘ gesungen von Savage Garden“ sagt er. Freundin Mandy sang zuerst zu Hause. „Sing Star“ für Konsole war ihre Einstiegsdroge, etliche Karaoke-Kneipenabende in Irish Pubs taten ihr Übriges. Warum Karaoke ein „Selbstläufer“ ist, können sie schon erklären, auch wenn sie dabei brüllen müssen, es ist ziemlich laut hier: „Singen ist ja etwas fast Therapeutisches. Das macht ja nicht nur Spaß, sondern das gibt auch Selbstvertrauen, da werden Glücksgefühle freigesetzt“, sagt Kevin. Mandy ergänzt: „Das Großartige an Karaoke ist, dass wir hier wirklich irgendwie alle gleich sind, trotz aller Unterschiede.“ Wo man herkommt, ist ebenso zweitrangig wie der Name des Fußballclubs, den man anfeuert oder als was oder ob man überhaupt arbeitet. Perfektion darf bitte auch draußen bleiben. Ein Gast mit dem hübschen Künstlernamen Rene Chanté bestätigt das: „Hier singen manche halt schief, aber dann ist es so.“ Kevin ergänzt: „Es ist ein geschützter Raum. Niemand wird zerfleischt.“
Wirt Metin Deniz sagt, er habe das mal ausprobieren wollen mit dem Karaoke. Erst seit Februar ist der „Treffpunkt“ die Kneipe des Mannes mit dem rosafarbenen Hemd und den Goldketten. Vorher bewirtete Heidi Boelke jahrelang die Menschen aus der Nachbarschaft, da hieß der Laden noch „Knobel-Eck“. „Ich bin zufrieden, die Stimmung ist super“, sagt Metin Deniz. Seine Freundin hinterm Tresen hat keine Zeit zum Reden. Sie zapft Bier im Akkord und reicht große Sektgläser mit Aperol herüber. Auf dem Tresen stehen Schüsseln mit Nudelsalat und Frikadellen zur Selbstbedienung. Singen macht nicht nur durstig.
Ulla Müller-Harboe wollte eigentlich nur Hähnchenkeulen im Supermarkt kaufen, doch dann hörte sie die laute Musik und wurde neugierig. „Die Leute waren auch gleich so nett und jetzt stehe ich hier“, sagt die Frau im Rollstuhl. Früher habe sie gern getanzt und gesungen, erzählt sie: „Kennen Sie dieses Lied ‚Im Wagen vor mir fährt ein junges Mädchen‘? Ich musste immer den Part von der jungen Frau singen, die von diesem alten Knacker verfolgt wird.“ Heute hört die 72-Jährige lieber André Rieu und Bryan Adams. Gegen 22 Uhr sitzt sie immer noch vor der Kneipe, vertieft ins Gespräch mit dem schwer verliebten Paar, das sich zuvor singend angeschmachtet hat: „Zu Hause wartet ja niemand mehr auf mich.“
Drinnen ist wieder Schornsteinfeger Rainer am Mikrofon. Sein Publikum schunkelt und schwenkt die Arme in der Luft: „Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals richtig frei!“, singen sie mit ihm zusammen. Udo Jürgens. Als die Textzeile mit den „zerrissenen Jeans“ dran ist, zeigt eine Frau gestikulierend und grinsend auf ihre Hose: Sie trägt heute auch eine zerrissene Jeans. Rainer, so scheint es wirklich, ist nicht nur in seinem Beruf ein Glücksbringer. Die Menge fordert Zugabe, Rainers Augen glitzern: „Danke, Hamburg!“ ruft er, fast wie ein echter Schlagerstar.