Die Centrum Moschee in der Böckmannstraße in St. Georg ist das Herz des sunnitischen Islam in Hamburg. Ein Ortstermin.
(aus Hinz&Kunzt 245/Juli 2013)
Ramazan Ucar zeigt nach oben. Ein grünes Muster ziert die schlanken, weißen Minarette der Centrum Moschee. Darüber habe es bei der Renovierung 2009 Streit gegeben, so Ucar. Manche dachten, das seien stilisierte Fußbälle. Aber Fußball und Moschee, das ginge gar nicht. „Es sind aber keine Fußbälle“, sagt der eher kleine Mann mit dem freundlich-runden Gesicht, „Fußballwaben sind fünfeckig, unsere sind aber sechseckig.“ Er schmunzelt.
Der islamische Theologe ist als einer von drei Imamen Chef der sunnitischen Moschee in St. Georg. Vom Dach „seines“ Gotteshauses blickt er hinunter auf pralles Leben: die Schmuckgeschäfte mit ihren blitzenden Goldauslagen, die Süßigkeitenläden mit orientalischen Leckereien, die Reisebüros, in denen die Pilgerfahrt nach Mekka beginnt, und die vielen Geschäfte, an deren Schaufenstern groß „Berber“ steht. Das ist türkisch und heißt „Friseur“.
Ucar studierte in den 80er-Jahren in Damaskus und kam 1991 nach Hamburg. Genauer gesagt: in die Böckmannstraße. Seitdem ist dieses Fleckchen Erde, die Verbindung zwischen der Adenauerallee und dem Steindamm, sein Lebensmittelpunkt. 1977 kauften türkische Gastarbeiter in dieser Seitenstraße für damals 500.000 Mark das vierstöckige ehemalige „Hammoniabad“ und bauten es zur Moschee um.
Im Umkreis der Moschee, die immer größer wurde, hat sich über die Jahre sunnitisch-türkisches Leben ausgebreitet. Die Böckmannstraße ist zu einem muslimischen Zentrum geworden. Religiös zwar, aber weltoffen. Der Verfassungsschutz sieht die Moschee zwar in „islamistischem“ Fahrwasser, steht mit dieser Meinung aber ziemlich allein. Immerhin besuchen jedes Jahr hochrangige Politiker, ja sogar Bundeswehrangehörige hier das traditionelle Fastenbrechen nach dem Ramadan.
„Die Leute suchen hier auch ein bisschen Heimatgefühl“
Zur Moschee gehört auch der einstöckige „Lindenbazar“, ein Supermarkt besonderer Art. „Wir sind mit viereinhalb-, fünftausend Artikeln nur ein Nischenanbieter“, erklärt Geschäftsführer Ahmed Yazici, der einst an der Uni Kiel Wirtschaftswissenschaften studierte. Die Kunden sind zu etwa 40 Prozent türkischer Abstammung, ansonsten kaufen hier Menschen mit deutscher, indonesischer, afrikanischer, pakistanischer, iranischer oder südeuropäischer Herkunft ein. Obwohl etliche seiner Produkte auch in deutschsprachigen Ländern hergestellt werden, trägt fast keines ein deutsches Etikett. Türkische und arabische Schrift überwiegen. „Das ist Absicht, die Leute suchen hier auch ein bisschen Heimatgefühl“, sagt Geschäftsführer Yazici.
Die Kunden des Lindenbazars sind wählerisch. „Haben Sie gar nicht mehr die Truthahnwurst?“, will eine Kundin wissen. Nein, die sei nicht mehr im Angebot, bedauert der Geschäftsführer. „Wir mussten fünf Produkte herausnehmen, weil uns die Lieferanten nicht zusagen konnten, dass sie halal sind.“ „Halal“ ist ein Produkt, das den islamischen Vorschriften gemäß geschlachtet und zubereitet wurde. „Haram“ heißt so viel wie verboten – Schweinefleisch ist beispielsweise haram, aber auch Raubtiere sind haram.
Geradezu überwältigend sind hier die Packungsgrößen. Arme Single-Haushalte: Es dominieren große Konserven und Plastikbehälter, Kisten und Kartons sowie Säcke. Eine alte Frau will 500 Gramm Weinblätter. Keine Chance: „Wir haben nur Drei-Kilo-Gebinde“, sagt eine Verkäuferin. Reis gibt es vorzugsweise in Fünf-Kilo-, aber auch in Zehn-Kilo-Säcken, dann sehr günstig. Melonen sind nur im Karton, fünf Stück, reif, für 2,99 Euro zu haben. Auch Gewürze gibt es in großen Mengen. „Paprika, kernlos, scharf“ in 65-Gramm-Packungen, für 99 Cent. Diese Menge kann ein mitteleuropäisch eingestellter Gaumen kaum in zehn Jahren bewältigen. Hier aber kaufen viele für eine Großfamilie ein oder bringen zumindest den Nachbarn etwas mit. „Das ist eben typisch orientalisch“, erklärt Geschäftsführer Yazici.
„Baklava ist türkisches Viagra“
Vom berühmten Baklava, der orientalischen Blätterteig-Süßspeise, gibt es 15 Sorten. Baklava wird viele Stunden in Sirup eingelegt, was den Teig schwer macht und höllisch süß. Offenbar wohnen der süßen Sünde zudem noch verborgene Kräfte inne: „Das ist türkisches Viagra“, gibt uns ein älterer Kunde verschwörerisch zu verstehen und kauft etliche von denen mit den Walnüssen.
Der Lindenbazar führt nicht nur Lebensmittel. Hier werden auch Textilien, Tischdecken, Haushaltswaren und jede Menge Kopftücher angeboten. Apropos Kopftücher. Der Geschäftsführer ist sich fast sicher, dass er die größte Kollektion Norddeutschlands vorrätig hat. Eine junge Frau schätzt besonders, dass die Preise seit Langem gleich geblieben sind: „Die kosteten vor zehn Jahren 2,99 Euro und heute immer noch.“ Doch es gibt auch teurere. In einer Vitrine liegen kostbare Tücher aus Seide, das Stück für 60 Euro. Für Hochzeiten etwa. Und die Kollektion wird regelmäßig dem neuen Trend angepasst.
Freitags um die Mittagszeit führen im Lindenbazar übrigens die Frauen das Regiment. Ihre männlichen Kollegen besuchen geschlossen die Moschee. Die ausschließlich von Männern geführte Fleischabteilung schließt zu dieser Zeit ganz. All die Lammkeulen, -schultern, -rücken, Schafschultern und -keulen werden von Schlachter Cemal Okutan abgedeckt, bevor die Männer sich in den Strom der Menschen einreihen, die der Moschee zustreben.
Mit gut 1000 Gläubigen auf zwei, manchmal drei Stockwerken platzt die Moschee beim Freitagsgebet aus allen Nähten. Zudem sind die Gebetsräume, anders als eigentlich vorgeschrieben, klein und verwinkelt. Die Erbauer des Schwimmbades konnten um die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert schließlich nicht ahnen, dass hier einmal ein Gotteshaus einziehen würde. Die Türen sind noch original. Sie knarren wie früher. Sogar die Treppengeländer und Handläufe sowie die Kacheln im Treppenhaus, die an die einstige Badeanstalt erinnern, sind von damals. „Man hat damals sehr gute Arbeit geleistet“, schwärmt Vorbeter Ramazan Ucar, „die Kacheln, die wir angeklebt haben, sind manchmal schon wieder runtergekommen, doch die 100-jährigen Kacheln der Badeanstalt, die halten immer noch.“ Das Geld für den Umbau spendete damals übrigens zur Hälfte ein pakistanischer Kaufmann. Für die Waschräume und Toiletten wollte er allerdings nichts geben: „Er sagte, dass er nicht will, dass über sein Geld gepinkelt wird“, erinnert sich Ramazan Ucar schmunzelnd. Leider, so bedauert er, habe man kaum Bilder davon, wie das Gebäude und das Bad früher einmal ausgesehen haben.
„Morgens gehe ich kurz zur Uni, nachmittags und abends bin ich immer hier.“
Beim Freitagsgebet in der Centrum Moschee sieht man eigentlich nur Männer. Im sunnitischen Islam, dem weltweit fast 90 Prozent der Muslime angehören, ist für Frauen das Gebet keine Pflicht. Trotzdem haben die meisten Frauen hier eine lange und intensive Beziehung zur Böckmannstraße. „Ich habe die Entwicklung der Moschee schon als Kind mitbekommen“, sagt die 38-jährige Diplompädagogin Reyhan Yilmaz. Bei Zusammenkünften hätten Frauen und Männer damals noch im Keller auf dem Boden gesessen. Für die 23-jährige Studentin Emine ist die Moschee ihr zweites Zuhause. Oder gar ihr erstes? „Morgens gehe ich kurz zur Uni, nachmittags und abends bin ich immer hier. Meine Mutter sagt, ich soll mir hier ein Bett aufstellen.“ Denn auch am Wochenende ist sie überwiegend in der Moschee, um in den Schulungsräumen die Mädchen beim Türkisch- und Koranunterricht zu unterstützen.
Nach dem Freitagsgebet erwacht die Straße wieder aus ihrer kurzen Ruhepause. Dicht gedrängt streben die Männer, nachdem sie sich ihre Schuhe wieder angezogen haben, dem Ausgang zu. Dort hält Gemeindehelfer Mustafa ihnen einen Pappkarton entgegen: Es werden Spenden gesammelt. Kirchensteuern sind im Islam unbekannt, die Spenden bilden die finanzielle Grundlage des Gemeindelebens.
Eine Moschee ist mehr als ein Gotteshaus. Am Fuße der Treppe, im moschee-eigenen Buchladen, suchen Gläubige nach Gedrucktem. Ein junger Mann blättert interessiert in dem Buch: „Teenager und Muslim“, ein anderer in „Unsere Propheten“. Hier gibt es nicht nur Bücher. Gern gekauft wird auch das zweiteilige Pilger-Set, die Ihram, zwei einfache weiße Tücher für 25 Euro. Die muss der gläubige Muslim umlegen, wenn er am Berg Arafat betet, dort, wo Mohammed seine letzte Predigt gehalten haben soll. Ein älterer Herr interessiert sich derweil für eine Uhr, aus der zur rechten Zeit, wenn gewünscht fünfmal am Tag, etwas scheppernd ein Gebetsruf ertönt. Nach dem Freitagsgebet haben auch die moschee-eigenen Friseure gut zu tun. Längst hat sich die Wartebank mit Kunden gefüllt. Flink setzen die Barbiere die Schere an. Einmal Haareschneiden kostet acht Euro, „zwei Euro weniger als in den umliegenden Geschäften“, sagt der Geschäftsführer stolz. Das Geld kommt der Moscheegemeinde zugute. Da liegt die Frage nahe, wie es denn Mohammed mit seinen Haaren gehalten hat. Junge Leute, so sagt Tamer Coban, würden ihm tatsächlich oft die Frage stellen, ob der Prophet auch lange Haare hatte. „Klar hat der Prophet auch lange Haare getragen“, antworte er dann, „aber, was wichtig ist, sie müssen gepflegt sein.“
Das gilt auch für Arif Tokicin, den Beerdigungsunternehmer. Der schlanke Mann mit der leisen Stimme und dem jungenhaften Äußeren hat seinen Betrieb in einem Hinterhof, gegenüber der Moschee. Er ist einer von drei türkischen Bestattern in Hamburg.
„Das hier kenne ich seit meiner Kindheit.“
Muslimische Tote sollen so schnell wie möglich ihre Ruhe finden. Arif Tokicin muss also schnell sein. Wenn er einen Anruf erhält, kann er dem Kunden im Normalfall zusagen, innerhalb von zwei Tagen alles erledigt zu haben. Das gilt sogar für Überführungen in die Türkei, die – immer noch – 80 Prozent seiner Kunden wünschen. Wenn Landsleute anrufen, bietet er an, den Sarg bereits am nächsten Tag mit der Spätmaschine um 17.30 Uhr nach Istanbul zu überführen. Alle Flugzeuge der Turkish-Airlines halten für diese Fracht Plätze bereit. Wobei man die Särge, anders als früher, auf dem Flughafen nicht erkennen könne, sagt Arif Tokicin, „sogar ich nicht“.
Tokicin hat sein Geschäft 1996 eröffnet und es nie bereut. Er kann sich nicht vorstellen, woanders zu arbeiten als hier gegenüber der Moschee. „Das kenne ich seit meiner Kindheit. Jedes Mal, wenn ich vom Urlaub in die Böckmannstraße zurückkomme, geht mir hier mein Herz auf.“
1961 kamen die ersten türkischen Gastarbeiter nach Hamburg. 1977 bauten sie das ehemalige Hammoniabad in der Böckmannstraße zur Moschee um. Alles war nur für den Übergang geplant, bis man wieder in die Türkei zurückgehen würde. Die jungen, kräftigen Männer rissen damals sogar die Aufzüge heraus, weil sie sich sicher waren, sie nie benutzen zu müssen. Heute, mehr als 30 Jahre später, sind sie immer noch da und in einem Alter, wo sie einen Aufzug gut gebrauchen könnten. Sie haben damals nicht daran gedacht, dass sie über die Böckmannstraße vielleicht auch ihren letzten Weg antreten.
Text: Reiner Scholz
Foto: Mauricio Bustamante