Warum der Erfolg des HSV von einem Bayern abhängt
(aus Hinz&Kunzt 120/Februar 2003)
Bambi, Oskar, Bundesverdienstkreuz — immer werden die ausgezeichnet, die sowieso schon im Rampenlicht stehen. Zum Abschluss unserer Serie „Menschen in der 2. Reihe“ stellen wir HSV-Masseur Hermann Rieger vor.
Gerade ist ein verletzter Spieler reingekommen – den muss ich noch behandeln.“ Hermann Rieger steht an der Tür und streckt zur Begrüßung den rechten Ellenbogen in Richtung des Gastes. Der greift dankbar zu, alles besser als Riegers Hände und Unterarme. Die glänzen speckig von Massageöl.
Um 20.45 Uhr ist der Fußballer endlich durchgeknetet, Hermann Rieger hat sich die Hände gewaschen und bittet in sein Reich: den Massage- und Physiotherapieraum für die Profi-Spieler des Hamburger Sportvereins am Trainingsgelände in Ochsenzoll.
Hier stehen Behandlungs-Liegen im HSV-Blau, Rotlicht-Geräte hängen von der Decke des weiß gefliesten Raumes, Verbandsmaterial, Cremes und Tuben stehen auf Fensterbänken, Gymnastikbälle stapeln sich in einer Ecke, gleich daneben eine geräumige Badewanne, durch deren Abfluss gurgelnd Wasser fließt. Es riecht nach Zitrus und Menthol. Alles wirkt steril – bis auf die Pinnwand, an der Autogrammkarten hängen und die Namen der Bundesliga-Profis, die sich am folgenden Tag in die Hände des Masseurs Hermann Rieger begeben – Hollerbach, Hoogma und „TaKa“ für den japanischen Neuzugang Naohiro Takahara. Und dann ist da noch der Fernseher, der unter der Zimmerdecke hängt, und in dem – wie sollte es anders sein – Fußball läuft oder Musik.
Kurz streckt Roda Antar, der eben noch auf der Behandlungspritsche lag, den Kopf zur Tür herein, um sich zu verabschieden. „Tschau Burschi“, ruft Rieger dem libanesischen Fußball-Talent in schönster bayrischer Mundart hinterher.
„Ich bin morgens der erste, der kommt, und abends der letzte, der geht“, sagt der im bayrischen Alpenort Mittenwald geborene Rieger. Um 7.30 Uhr hat sein Arbeitstag begonnen. Jetzt sind seine Augen leicht gerötet, und die Charakterfalten haben sich ein bisschen tiefer in das Gesicht des 61-Jährigen gegraben. Gleich, um 22.30 Uhr, kommen noch zwei verletzte Spieler zur Behandlung – Bernardo Romeo und Stephan Kling. Die brauchen ihre Versorgung für die Nacht, bekommen Salbenverbände. Drei Mal pro Tag werden verletzte Profi-Fußballer behandelt, um den Heilungsprozess zu beschleunigen. „Spieler, die nicht spielen können, sind totes Kapital“, erklärt der Masseur, bei dem diese wirtschaftliche Denkweise wie auswendig gelernt klingt.
„Eigentlich bin ich kein richtiger Arbeiter“, sagt Rieger dann mit Blick auf seine 16-Stunden-Tage, die er nun seit mehr als 20 Jahren beim HSV schiebt. „Ich freue mich jeden Tag wieder, hierher zu kommen“, sagt er, fährt sich mit den kräftigen Händen durchs grau gelockte Haar und lacht. Die Müdigkeit, die man dem muskulösen Mann eben noch ansah, scheint wie weggeblasen.
Rieger hat ohne Zweifel Durchhaltevermögen. „Für diesen Job muss man topfit sein“, sagt der Masseur, der vor allem die vorderen und hinteren Beinmuskeln und die Rückenmuskulatur seiner „hochwertigen Jungs“ bearbeitet. Doch Rieger verdankt seine Kraft offenbar vor allem seiner puren Leidenschaft für den HSV, dem er sich mit Leib und Seele verschrieben zu haben scheint.
Damals, 1978, als Rieger vom 1. FC Bayern München nach Hamburg kam, haben sie dem Ur-Bayern vorausgesagt, er würde es keinen Monat im Norden aushalten. „Aber dann habe ich so viel Spaß gehabt und Erfolge gefeiert mit Stars wie Hrubesch, Kaltz und Keegan, da habe ich das Kündigen einfach vergessen“, erzählt er. So folgte ein Jahr dem nächsten. Heute bekommt der einstige Trainer der Deutschen Ski-Nationalmannschaft nur noch Heimweh, wenn er einen alten Ski- und Bergfilm im Fernsehen sieht – „da bekomme ich richtige Gänsehaut.“
Die Fans des HSV dankten Rieger seinen unermüdlichen Einsatz 1994 mit der Gründung des nach ihm benannten Fanclubs „Hermann’s treue Riege“. „Alles vernünftige Fans, keine Hooligans oder Leute, die mit Bierdosen schmeißen“, sagt Rieger.
Ihren Kult-Masseur als Mensch in der zweiten Reihe zu bezeichnen, werden sie vielleicht als Beleidigung empfinden. Doch Rieger steht dazu: „Ich wirke hinter den Kulissen. Das ist mein Job und das ist es, was ich will.“ Jeder Spieltag sei wie ein großes Finale, auf das er hinarbeitet. „Wenn ich am Freitagabend sagen kann: Der Trainer hat zu viele Spieler, die er einsetzen kann, dann bin ich zufrieden.“
Am Wochenende, wenn „seine Jungs“ dann spielen, sitzt er auf der Bank und leidet fürchterlich. Oder er erlebt die größten Glücksmomente – wie 1979 oder 1982, als der HSV Deutscher Meister wurde.
Zu gerne würde er noch einmal so einen Erfolg feiern, bevor er in Rente geht. „Die jetzige Mannschaft hat so viel Potenzial, vielleicht erleb ich noch eine Meisterschaft“, schwärmt er, und die Augen glitzern. Ein schöner Abschluss wäre das – obwohl Rieger nicht genau weiß, wie er seinen eigenen Abschied vom HSV verkraften wird. „Ich glaub schon, dass es schwer wird“, sagt er nachdenklich.
Wahrscheinlich kehrt er zurück nach Mittenwald in sein Elternhaus, wo auch seine Geschwister leben. Eine Familie hält ihn zumindest nicht in der Hansestadt – sie hätte ihn vermutlich sowieso kaum zu Gesicht bekommen. „Der Tag mit seinen 24 Stunden ist einfach zu kurz“, sagt Rieger. „Ich möchte gerne viel mehr machen.“ In Mittenwald wird er Zeit haben. Was er mit ihr anfangen wird, weiß der Masseur aus Leidenschaft allerdings noch nicht so genau. „Da werde ich wohl erst mal von Hütte zu Hütte springen und überall Grüßgott sagen“, so Rieger, der in seinem Heimatort alle kennt.
Und natürlich wird er alle Auswärtsspiele des HSV besuchen, in München und Stuttgart – „alle die, die ich von dort gut erreichen kann.“
Inzwischen hat Rieger seinen Nachfolger eingearbeitet, „dann kann ich mich peu à peu verabschieden.“ Die Spieler wird er sicher vermissen. Aber im Profi-Fußball gehört Abschiednehmen auch zum Geschäft. Früher seien die Spieler dem Verein sechs oder acht Jahre lang treu geblieben. Heute wechseln sie ihre Clubs immer schneller. „Gerade hat man sich angefreundet, schon verlässt wieder jemand die Stadt“, sagt Rieger, der das oft sehr traurig findet. Schließlich kennt er die Jungs. „Ich bin ja immer da. Die Spieler wissen, dass sie mit Fragen und Problemen zu mir kommen können.“ Und das tun sie auch, bei Stress mit der Familie, in der Beziehung oder der verpatzten Urlaubsplanung. „So cool, wie viele von ihnen tun, sind sie nicht“, sagt Rie-ger, der seinen Schützlingen manchmal auch mit einer kleinen Notlüge über die Runden hilft – mehr verrät er nicht.
Bei Hermann Rieger sind Geheimnisse gut aufgehoben.