Am Stettiner Ufer werden Waren aus aller Welt umgeschlagen
(aus Hinz&Kunzt 147/Mai 2005)
Die Lastwagen scheinen direkt in den Himmel zu fahren. Ihre nie endende Prozession führt grollend die Köhlbrandbrücke hinauf, um den Freihafen erst unter, dann hinter sich zu lassen. Im Schatten der Brücke, wo die Straße Stettiner Ufer am Travehafen entlangführt, versteckt sich eine kleine Imbissbude. „Zum heißen Reifen“ heißt sie, und drinnen klingt das Dröhnen der Lastwagen fast wie startende Flugzeuge.
Ein Geräusch, das Christian Brill von früher kennt. 26 Jahre lang hat er am Flughafen gearbeitet, ein Bürojob bei Swiss Air. Bis er vor einem Jahr sagte: „Ich schmeiß hin und mach eine Pommesbude auf.“ Wie man das eben so sagt, wenn der Job nervt. Aber Christian Brill machte ernst. Per Kleinanzeige fanden seine Frau Barbara und er den „Heißen Reifen“, und seither sind sie glücklich.
„Das ist mit meinem früheren Beruf überhaupt nicht zu vergleichen“, sagt er, „kein Stress mehr: heute mal Currywurst mit Pommes und Mayo, morgen vielleicht mit Pommes und Ketschup, das ist alles.“ So kann das Barbara Brill nicht stehen lassen: „Etwas abwechslungsreicher ist unser Angebot schon.“ Heute gibt’s beispielsweise Nackensteak und Kartoffelsalat, für 4,50 Euro. „Wir kochen alles selbst, und auch die Salate sind nicht gekauft, sondern frisch angemacht.“
Die Brills sind stolz darauf, dass die Küche vom „Heißen Reifen“ im Sprechfunk der Lkw-Fahrer immer wieder gelobt wird. „Rau aber herzlich“ sei das Verhältnis zu den Truckern.
Nur früh aufstehen müssen Christian und Barbara Brill, seit sie den Imbiss betreiben: „Um halb fünf klingelt der Wecker, dann herfahren, Frühstück machen, um sechs Uhr machen wir auf.“ Dafür ist Christian Brill rund um die Uhr mit seiner Frau zusammen, und das nervt ihn immer noch kein bisschen: „Das ist wahre Liebe, und zwar 24 Stunden am Tag“, sagt Christian Brill, seine Frau lächelt, er grinst.
Im Moment ist Manfred Goetsch der einzige Gast an einem der kleinen Metalltische im „Heißen Reifen“. Der 53-Jährige beliefert die großen Containerschiffe mit Proviant. Je nach Mannschaftsstärke kommen schon mal zwei bis drei Lkw-Ladungen aufs Schiff. „Essen, Trinken, Ersatzteile, Putzmittel: Wir liefern alles außer Treibstoff“, erklärt er.
Um Schmier- und Treibstoffe kümmert sich Arthur Weigelmann. Besser gesagt um deren Entsorgung. Der 42-Jährige steht im Blaumann auf Deck eines der Schiffe im Travehafen, denen lyrische Namen wie „Ölsauger IV“ auf den schwarzen Bug gepinselt wurden. Mit einem Gartenschlauch beseitigt er die Überreste des gestrigen Einsatzes, bis kurz vor Mitternacht hatte er gearbeitet. Mit ihren kleinen Schiffen fahren Weigelmann und seine Kollegen an die Containerriesen heran. Um an Bord zu kommen und Öl und Treibstoffreste fachgerecht abzusaugen, sind die Reinigungsschiffe mit langen Leitern ausgestattet. Keine leichte Arbeit, denn die Schläuche der Absauganlage sind mit Stahl ummantelt und schwer. Wenn die Filter verstopfen, müssen die Überreste mit einer Schaufel in Fässer geschippt werden. Am Ende ist das Containerschiff sauber – die Ölsauger aber nicht mehr. „Besonders die braune Rostbrühe aus den Kettenkästen der Anker spritzt alles voll“, klagt Weigelmann.
Mit 17 Jahren fuhr er zum ersten Mal zur See, „als junger Mann will man ja was von der Welt sehen.“ Aber die Zeiten sind für ihn vorbei, seit sieben Jahren arbeitet er nur noch im Hafen: „Das ist besser, als acht Monate lang weg von zu Hause zu sein“, sagt er und fährt fort, sein Schiff mit dem Schlauch abzuspritzen.
Nur der Lärm der Lkw stört die Idylle im Travehafen. Angelockt werden die Brummis von einem Terminal der BUSS GmbH, das direkt neben dem Hafenbecken am Stettiner Ufer liegt. Hier stapeln sich Container auf 300.000 Quadratmetern und warten auf den Abtransport per Lkw. Dazwischen flitzt ein „Reachstacker“, ein Gabelstapler im XXL-Format, der die tonnenschweren Kisten anhebt wie Bauklötze und auf die Laster setzt. Neuerdings schützt ein hoher Zaun das gesamte Terminal, wer aufs Gelände will, muss sich beim Pförtner anmelden. Eine Sicherheitsbestimmung, durchgesetzt von den USA, die aus Angst vor Terrorismus keine Container mehr in ihre Häfen lassen, die nicht ausreichend bewacht wurden.
In der Kantine des Terminals sitzt eine Gruppe Arbeiter in orangefarbener Sicherheitskleidung, die Helme vor sich auf dem Tisch. Mittagspause. Lademeister Ronald Felting, seit 30 Jahren im Hafen, erzählt, wie sich der Job geändert hat: „Heute ist die Arbeit im Hafen eher Kopfarbeit.“ Weil immer mehr, immer schwerere Waren umgeschlagen werden, übernehmen Maschinen das, was früher Knochenarbeit war. Dennoch vermisst Felting manchmal die „alte Zeit“: „Da war die Moral besser, weil wir einfach mehr Leute waren.“ Trotzdem kann Ronald Feltig jedem empfehlen, im Hafen anzufangen: „Vielseitig ist der Beruf, nicht so eintönig wie in der Fabrik.“
Zur See gefahren ist Ronald Feltig auch mal, im ganzen Mittelmeerraum und bis nach Australien. Warum lockt ihn die weite See nicht mehr aus dem kleinen Travehafen? Da gibt Feltig ein Sprichwort zum Besten, das in der Kantine mit Gelächter quittiert wird: „Wer als Seemann nicht taugt, wird im Hafen verbraucht.“ Das reimt sich natürlich nur, wenn „taugt“ hamburgisch wie „taucht“ ausgesprochen wird. Was im Freihafen selbstverständlich ist.